Ende des Neoliberalismus? Und die Linke?

so overViele linke Organisationen, Einrichtungen, politische Annahmen und (Re-)Aktionsmuster entstanden im der Zeit, sagen wir, der Blüte des Neoliberalismus. Die hier Agierenden oder gar Beschäftigten haben einen Großteil ihre politischen Lebenszeit unter der Hegemonie seiner Praxis, Kultur und Problemstellungen für die Linke gelebt und gearbeitet.

Geht nun diese Zeit zuende? Ja, sie geht zu Ende. Was bleibt, ist offen.

Jedes Ende dauert. Die aktuelle Krise baute sich in anderthalb Jahren sukzessiv auf. Die Macht und ihr Unterbau sind drei, vier Jahrzehnte alt. Sie schwindet nicht so einfach – aber die gewisse Leichtigkeit einer Hegemonie: sie ist definitiv dahin. Welchen Charakter hat dieses außerordentliche Ereignis, das bislang als Finanzmarktkrise bezeichnet wird? Ist dies eine „finale“ Krise des Neoliberalismus? Was bleibt von ihm? Was wird kommen? Reicht die Vermutung einer neuen Hochzeit autoritärer Staatlichkeit aus? Frau Merkel, schreibt der FTD vom 10.10., „hat in all der Hektik“ um das Hypo Real Estate – Rettungspaket „etwas vergessen: das Parlament.“ Wie soll man sich einen autoritären Kapitalismus auf den massiven Trümmern des Neoliberalismus vorstellen? Zerbricht die Finanzmarktkrise die noch vorhandenen großen Stücke des Vorsorge-, Wohlfahrts-und Sozialstaats? Wie wird das soziale Kapital und wie das Kapital fürs Soziale aus dieser ungeheuren Kapitalvernichtung herauskommen? Wird die „Rekapitalisierung“ des Finanzkapitals den Staat auf seine Gewaltstruktur skelettieren? Ist nicht bailout sondern sellout des Staates das Wort der Stunde? Die neuartigen Befestigungen privater Macht, Ressourcenungleichheit und privater Gewaltpotentiale des neoliberalen Geldadels haben, wie Krysmanski en Detail elaboriert hat, ihre eigenen Ressourcen und werden durch die Lehmann-Pleiten nicht grundsätzlich tangiert. Welche neuen Konfliktlinien entstehen also? Oder ist dies etwa eine große Krise, deren Folgen klein gehalten werden können? Plötzlich tauchen grundlegende Fragen auf.

Und: das Wissen um die Wirkungen solcher Krisen existiert in der Bevölkerung. Da das „Verhetzungungspotential“ (FAZ 10.10.) ununterbrochen steigt, fordert die Macht auf, buchstäblich stillzuhalten. Präventiv operiert sie mit Angst-Mache und droht mit der Perspektive der Verelendung – die ja für Millionen bereits beginnt realistisch zu werden. Dazu kommt die eigene Angst: sie versucht verzweifelt, das Kapital zusammenzuhalten, wieder die Kontrolle über den Prozess zu erlangen und die Desintegration der Gesellschaft zu verhindern. Hat die „politics of fear“ erst angefangen? Im Moment dominiert das Feuerwehrpersonal: saubere Bankers (Ackermann, Buffet, Strauss-Kahn), Kontrollmaschinisten (Sakorzy, Steinbrück) und Beruhigungsexperten (Merkel, Berlusconi). Diese Aufgabe okkupiert fast alles. Sie wird aber die Kräfteverhältnisse national wie international neu austarieren und in diese Kämpfe werden sukzessiv die Einschätzungen strategischer Einrichtungen und Intellektueller eingehen, die im Moment nur an ihrem eigenen Opportunismus kauen, über das Verlorene jammern und über die schlimme Zukunft dräuen (Schirrmacher usw.). Auch da werden viele Karrieren zu Ende gehen.

Ob die Banker die Republik „nach links“ (FAZ 9.10.) verschoben haben, ist offen.

Aber seit den frühen 70ern hat sich die politische Rechte und hat sich die liberale oder rechte Sozialdemokratie nicht mehr so vor einer potentiellen Linken gefürchtet wie heute, wie seit drei, vier Wochen. Sie interpretiert diese Entwicklung als eine große, historische Chance für die Linke.

Die FAZ, das Auge der deutschen herrschenden Klasse, leitartikelt am 10 Oktober:

Langsam dringt die historische Dimension dieser Krise in das Bewusstsein von Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Auch wenn ein Ende noch nicht absehbar ist, so beginnen alle zu ahnen: Die gesellschaftspolitischen Folgen dieser Krise werden langfristig und einschneidend sein. … Wenn alle anderen Akteure ausfallen, kann zum Schluss nur noch der Staat Vertrauen stiften. In einem Meer der Unsicherheit ist der Staat der letzte Rettungsanker. Die Garantie von Bundeskanzlerin Merkel für das Geld deutscher Sparer hat geholfen, einen Sturm der Anleger auf die Banken zu verhindern. Wenn in Deutschland das Geld der Sparer nicht mehr sicher wäre, dann bräche das Fundament des Staates. Die Garantie der Bundesregierung gilt für die Ersparnisse von Privatleuten, die etwa 1000 Milliarden Euro auf Bankkonten liegen haben. Es handelt sich um Guthaben, nicht um Kredite, Wert- oder Schrottpapiere. Ein funktionierender Zahlungsverkehr ist ein öffentliches Gut; das Einstehen des Staates für das von ihm ausgegebene Geld ist im Zweifel selbstverständlich. Außerdem würfe es den Bund nicht um, wenn der Garantiefall einträte.…aber er sollte sich hüten, jedes Risiko zu übernehmen…Diese Finanzmarktkrise wird die weltpolitische Landkarte verändern. Dies jedoch nicht im Sinne deutscher Kapitalismuskritiker, die schon den Abgesang auf die marktwirtschaftliche Ordnung anstimmen. Marktwirtschaft und Demokratie sind krisenerprobt, sie werden auch durch dieses Finanzbeben nicht untergehen. Für die nahende Bundestagswahl steigt allerdings mit jedem Nachbeben das Verhetzungspotential. … Das Epizentrum der Krise liegt in der Wall Street; dort könnte das Ende der finanziellen Vorherrschaft der Vereinigten Staaten eingeläutet werden. Amerika ist militärisch geschwächt und geopolitisch ermüdet. Die Welt befindet sich im Übergang vom amerikanischen Hegemon zu einer multipolaren Ordnung. Die Rechnung für diese Krise wird nicht an einem Tag, sondern über Jahre beglichen. …Es wird eine globale Lastenverteilung geben. Amerikas Gläubiger haften mit. Das kommunistische China hat geschätzt 500 bis 600 Milliarden Dollar in der Krise verloren. Die Devisenreserven der Volksrepublik schrumpfen täglich. Kaum besser ergeht es Russland und den Golfstaaten, die ihre Erlöse aus Öl- und Gasgeschäften künftig nicht nur in Dollar anlegen wollen. Diese und viele andere Länder sind der Wall Street gefolgt und enttäuscht worden….Das Beben an den Finanzmärkten führt zu einer tektonischen Verschiebung der politischen Machtverhältnisse der Welt.

Die Macht (star trek) versucht, die Krise zu lösen und zu verhindern, dass sich der ungeheure Legitimationsverlust (Rolle des Staates) ausweitet in a new long left era. Sie stemmt sich gleichsam gegen das „politische Pendel“ (Rick Wolff). Ihre Verteidigungslinien werden gezogen, Zwischenlösungen probiert. Es ist die Zeit der Hybride. Ihre Hauptinstrumente sind positive Krisenlösung durch Korrektur und Staatseinsatz, Rettung ihrer sozialen Basis, Verelendungs- und Angstpolitik. Ihre Bailouts und Rekapitalisierungen schaffen keine Arbeitsplätze. Ihre Politik ist getragen vom alten, eben neoliberalen spirit des Finanzialismus, der in den letzten Jahrzehnten die Kultur des kapitalistischen Staates geprägt hat: die Realwirtschaft kümmert sie (noch) nicht sonderlich, Jobs erst recht nicht, was ist schon Hartz IV gegen Hypo Real? Das ist wahrlich kein financial socialism, von dem Richard Sennett in der FT jetzt schreibt. Das ist capitalist state at its best.

In der Linken befestigt sich aber die Annahme, dass die Dynamik in Richtung auf eine Ausweitung der Finanzmarktkrise in eine Weltwirtschaftskrise ungebrochen ist. Das aber würde bedeuten, dass wir auf die erste große soziale Krise des 21. Jahrhunderts zusteuern und es nicht „nur“ um die Explosion der Arbeitslosigkeit in den Finanzabteilungen der global cities geht, die beispielsweise der britische Think-Tank CEBR für London prognostiziert

Der Macht geht es auch und klar um die Bekämpfung der zentralen linken Option: wo der Staat kurzerhand Billionen mobilisieren kann, um das private Finanzsystem zu reparieren, kann er ebenso kurzerhand diese Ressourcen für zukunftsfähige Lösungen gesellschaftlicher Probleme einsetzen – Billionen Gesellschaftskapital also.

Stimmen diese Gedanken? Was kann die Linke von der aktuellen Mobilisierung des Finanzstaates lernen? Wie muss der finanzialisierte kapitalistische Staat verändert werden?  Wie verhindert sie einen selbstmörderischen Linksetatismus? Wie setzt sie praktikable Differenzen in der Staatlichkeit und zu ihr? Bislang plädiert sie für einen stärkeren Interventionismus in den Finanzmarkt, massive Umverteilung nach unten (also „Gleichheit“). Radikale Realpolitik aber geht, in der Situation des neoliberalen Bruchs, auf mehr: „Garantie“ (Merkel) der sozialen Infrastruktur und der globalen sozialen Rechte. Wenn mit Billionen der Finanzmarkt garantiert werden kann, dann kann auch soziale Gleichheit garantiert werden.

Die Linke beginnt nur sehr langsam, sich aus ihrer Schockstarre zu lösen. Sie versucht sich zu verständigen, was sie wissen muss, um handeln zu können.  Was ist? Wohin geht es? Was tun? Wenn diese Erwägungen also zutreffen – hat die Linke eine qualitativ neue Chance? Wohin soll sie sich verändern? Was soll sie tun? Wie kommt sie zusammen? Wie organisiert sie ihr Wissen? Wie operiert sie international? Schluss mit dem Trott.

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