Notizen zu einem Beitrag für’s Left Forum 2010

Zwei Jahre nach dem offenen Ausbruch der Finanz- und Wirtschaftskrise konstatieren herrschende Kreise in allen zentralen kapitalistischen Ländern das Ende dieser Krise. Zwar seien die Auswirkungen nicht zu übersehen, doch die Wachstumszahlen würden wieder nach oben zeigen. Die schlimmsten Auswüchse des Finanzmarkt-Kapitalismus seien beseitigt und zugleich sei die Erfahrung gewonnen, wie durch schnelles und entschlossenes staatliches Eingreifen eine Katastrophe verhindert werden konnte.

Tatsächlich ist das antizyklische Agieren der Staaten und ihre Maßnahmen zur sozialpolitischen Abfederung im Vergleich zu der letzten großen Krise viel umfangreicher – und wirksamer. Die aktuelle Stabilisierung der Wirtschaft ist daher nicht auf eine dauerhafte Erholung der Akkumulation des Kapitals zurückzuführen. Sie ist vor allem das Resultat der Konjunkturstimulierung und Stützung des Bankenbereichs durch die Verschuldung des Staates und vieler privater Haushalte. Die Finanzkrise und die Krise der Realwirtschaft sind nicht beendet, verlaufen im globalen Maßstab aber sehr ungleich.

Vieles spricht dafür, dass die Krise einen neu fragmentierten Krisenneoliberalismus hervorgebracht hat, in dem auf längere Zeit hin unterschiedliche Akkumulationsmodelle im Streit liegen.

Erstens gibt es eine prekäre Konsolidierung des weiterhin dominierenden finanzmarktgetriebenen Akkumulationsmodells, deren Dauer nicht absehbar ist. Konsolidierung heisst: kein Vorgehen gegen riskante Finanzmarktinstrumente, schwache Regulierung, Kontinuität der Finanzmärkte.

In Europa wurden durch Kurzarbeit und Konkunkturporgramme zentrale Schichten der qualifizierten Lohnabhängigen in den Kernsektoren vor Erwerbslosigkeit, allerdings nicht vor großen Einkommensverlusten geschützt. Ein Krisenkorporatismus etablierte sich, mit den Gewerkschaften als klar abhängigen Teilhabern. Nirgends haben die Gewerkschaften es vermocht, aus der Krise heraus die explodierende Staatsintervention für Eingriffe in die Investitionshoheit der Eigentümer zu nutzen. Ein Umschalten auf eine aktive sektorale und regionale Strukturpolitik oder auf eine Ausweitung der Mitbestimmung zu einer Politik der Wirtschaftsdemokratie ist zwei Jahre nach dem Ausbruch der Krise kein Thema.

Betrachtet man die europäische Ökonomie der Macht, dann hat sich die Dominanz von Frankreich, Deutschland und England auf den Finanzmärkten wie in der Realwirtschaft deutlich befestigt, auch Polen und die nordeuropäischen Staaten mitsamt ihren neoliberalen Eliten haben ihre Positionen in Europa konsolidiert.

Die in drei Jahrzehnten entstandenen großen Einkommens- und Vermögensungleichheiten werden nicht verringert, sondern vertiefen sich weiter. Kurz zum Beispiel Deutschland: Erstmals seit der Gründung der BRD sind im letzten Jahr die durchschnittlichen Bruttoverdienste der Arbeitnehmer gesunken auf 27648 Euro – Grund waren der Abbau der Überstunden, der Ausbau der Kurzarbeit und die Ausweitung der Arbeitslosigkeit. Rund 14 % der Bevölkerung – das sind über 11,5 Millionen Deutsche – lebten im Jahr 2008 in Armut. Das ist rund ein Drittel mehr als vor zehn Jahren. Unter den 19- bis 25-Jährigen lebte schon 2008 knapp ein Viertel unter der Armutsschwelle. Für Familien mit vier Kindern und mehr sind es sogar 36 Prozent, bei Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern liegt die Armutsrate bei mehr als 40 Prozent. Das gehört zum Bild des neuen finanzmarktgetriebenen Krisenneoliberalismus.

Zweitens wurden mit den Konjunkturprogrammen zudem international Ansätze eines state-led Green New Deal auf den Weg gebracht: „…the countries are striving vigorously to get ahead in the race for pole position in the new green low-carbon economy“ formuliert ein eben publiziertes neues Gutachten zur Umweltpolitik Deutschlands. Für ihre Repräsentanten ist klar: wer im Kampf um den grünen Kapitalismus unterliegt, kann keine Hegemonie und Profitdominanz im Kapitalismus der Zukunft erreichen.

Drittens wurden parallel in Ländern wie Brasilien und China starke binnenmarktorientierte, inclusive growth and accumulation strategies eingeschlagen die darauf abzielen, bislang ausgeschlossene riesige periphere Sektoren einzubeziehen. They try to establish a change from „fragmented accumulation“to an inclusion of internal peripheries as a new driving force of global capitalism. Their huge internal markets help to recover from crisis and compensate the process of deglobalization.

Viertens wurden andere zentrale Player wie Indien von der Finanzkrise kaum tangiert und setzten ihren Typ neoliberaler Politik fort.

Kurz: Die Herrschenden haben in der jüngsten Krise Modifikationen vorgenommen, neue Optionen erschlossen, Herausforderer zumindest partiell integriert. Der hegemoniale Block wurde deutlich verändert, die Kräftekonstellationen in den herrschenden Klassen haben sich beträchtlich geändert, es ist ein neu fragmentierter Krisenneoliberalismus entstanden. The global shift to Asia sped up; in partucular US, Japan and EU are hit by the crisis, the global spatial order of accumulation changes.

In Europa wurden die sozialdemokratischen und marktradikalen Richtungen klar geschwächt, es bildet sich ein neues rechtes Zentrum des Krisenneoliberalismus heraus. Von einer grundsätzlichen, strategischen Absage an das neoliberale Entwicklungsmodell des Kapitalismus kann nicht die Rede sein.

Nirgends ist es zu einem großen Durchbruch der Linken gekommen – und angesichts von drei Jahrzehnten, die von einer historischen Niederlage geprägt waren, war dies auch nicht zu erwarten. Gerade Linke fallen nicht vom Himmel.

Bemerkenswerterweise hat sich aber auch in vielen europäischen Staaten ein schwaches, labiles, ambivalentes moralökonomisch agierendes bürgerliches Dissendentenfeld zu Wort gemeldet, das zum Teil deutlich postneoliberal und anschlußfähig für die Linke ist. Es macht sich für humanistische, liberale (seltener libertäre), ökologische, reformerische und zuweilen auch wohlfahrtsstaatliche Ziele vor allem der Mittelklasse und einiger junger Elitengruppen stark und rekrutiert sich oft stark aus bürgerlich gewendeten Grünen, den Restbeständen einer sozialdemokratischen Regierungslinken und einem humanistischen Liberalismus. Politisch blickt es häufig auf die Obama-Administration oder sogar auf die linken bzw. Mitte-Links-Regierungen in Lateinamerika.

Die Linke richtet sich darauf ein, dass aufgrund von Steuerausfällen und Staatsausgaben für die Konjunkturprogramme die Staatsverschuldung enorm zulegen wird. Zwischen 2008 und 2010 haben die G-20 Staaten Konjunkturprogramme in Höhe von ca. 1,1 Billionen Euro aufgelegt. Ende dieses Jahres werden sich die Schulden dieser 20 größten Wirtschaftsnationen um 45 % gesteigert haben. Deutschlands Staatsschulden haben mit 1,7 Billionen Euro im Jahr 2009 einen neuen Rekordstand erreicht. Die Steuereinnahmen in Deutschland sind 2009 regelrecht eingebrochen (- 5,9 Prozent oder rund 30 Milliarden Euro weniger als 2008).

Die große Krise ist nicht vorbei, jetzt stehen Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung im Zentrum. Sie sind die politischen Schlüsselfragen der nächsten Jahre.

Dies erschwert zugleich den Übergang zu einem green capitalism, einem anderen Akkumulationsmodell also, für den die staatlichen Initialaktivitäten von kaum zu überschätzender Bedeutung sind. Es erschwert auch die Abkehr von der hypertrophen Exportstrategie durch eine binnenmarktorientierte Konsumstrategie und eine Politik der Einkommenssteigerung. Die Versuche, so die  binnenmarktgetriebene Akkumulation zu stärken um auf diese Weise sogenannte sich selbst tragende Aufschwünge und wieder die Wachstumswerte und Profitraten der neoliberalen Blasen-Wirtschaft zu erreichen sind angesichts der kontinuierliche Zunahme von Staatsverschuldung und Arbeitslosigkeit von vorneherein bestenfalls schwächlich.

Niemand weiss daher genau, wie die weitere wirtschaftliche Entwicklung verlaufen wird. Es steht zu erwarten, dass bei den Lohnabhängigen, Arbeitslosen und Rentnern eingesammelt wird, was man ins Finanzsystem gepumpt hat, durch höhere Steuern, Leistungskürzung, höhere Privatvorsorge. Sicher ist: in einer Zeit explodierender Verschuldung gilt die Demontage des Sozialstaates als Königsweg der Haushaltskonsolidierung.

In keiner zentralen Frage der Zukunft ist sich die Linke einig:

  • In der Frage des Kapitalismus – denken wir seine Veränderung auch als Kontinuität und Bewahrung oder als Bruch und radikale Neukonstitution?
  • In der Frage des Eigentums – denken wir es als Commons, primär als Staatseigentum oder gemische Ökonomie?
  • In der Frage der Klassen – wie denken wir Diversity, difference, unity, hegemony?
  • In der Frage des Staates – wie denken wir das Verhältnis elektoraler und parlamentarischer Politik zur Notwendigkeit der Veränderung des Staates und des Öffentlichen?
  • In der Frage der Militär- und Sicherheitspolitik – ist die Linke radikal pazifistisch oder plädiert sie für „humanistische“, demokratisierende gewaltförmige Interventionen?

In der bundesdeutschen Debatte der Linken macht soeben ein Begriff Karriere – die „Mosaiklinke“ – der sagt: es geht in einer bunten, vielfältigen, weiten, souveränen, radikalen, transformatorischen Linken um Synergien und produktiven Streit, um aus einem Mosaik ein neues Bild zu machen, in der Sprache der politischen Theorie: um das Bild einer in sich entpolarisierten, pluralen und diversen Linke (Boaventura de Sousa Santos), die imstande ist, dem Klassenfeind im Zweifel ein paar mehr Zähne zu zeigen als gewohnt.

Die aktuelle Krise zeigt aber auch – sehen wir von diesen Grundfragen ab – dass eine Reihe zumeist linkskeynesianischer Vorschläge der Linken richtig und realistisch sind:

  • Durch Arbeitszeitverkürzung kann Beschäftigung in großem Umfang gesichert werden – Verkürzung der Arbeitszeit bei teilweisem Lohnausgleich führte dazu, das in der BRD 2009 über eine Million Menschen in Arbeit blieben
  • Eine Stabilisierung des Binnenmarktes durch Kaufkraftstärkung – siehe die Abwrackprämie – ist möglich
  • Die eingebauten Stabilisatoren des Sozialstaates wirken
  • Öffentliche Konjunkturpolitik bremst Konjunkturabstürze ab und dabei gilt: öffentliche Investitionen sind wirkungsvoller als Steuersenkungen, eine öffentliche Industriepolitik tut not, deren Investitionen sich am Bedarfsdeckungsprinzip orientieren
  • Steuern auf Vermögenseinkommen sichern die Ressourcenausstattung des Staates und verringern die Spekulationsmasse
  • Demokratisch-partizipative Unternehmenskultur ist nötig: es geht um Alternativen zum Kapitalismus und um Alternativen im Kapitalismus.
  • Die Wahrnehmung der Gesellschaft verändert sich, die neue Existenzunsicherheit schafft kollektivierende Krisenerfahrungen, die sich aber nicht nicht zu einer tiefen Gesellschaftskrise verdichtet haben. Die Politik und Kultur der Individualisierung und Fragmentierung, die den Neoliberalismus auszeichnet, hat nicht verhindert, dass die Kritik am Kapitalismus gestiegen ist. In verstreuten lokalen, oder auch regionalen Dimenionen werden markteinschränkende, beschäftigungssichernde umverteilende Regulationen  durchgesetzt. Solche gegenhegemoniale Projekte bleiben aber noch relativ fragmentiert, unverbunden und unkoordiniert, sie spielen auf multilateraler, supranationaler und globaler ebene keine rolle – sieht man von Lateinamerika ab. Dort entsteht mittlerweile ein Repertoire von antineoliberalen Templates, Politikvorlagen, Prototypen, z. B. Energieprojekte, die Banco del Sur, Verbindungen ökologischer und indigener Projekte etc. Hier gibt es so etwas wie eine erste Vergesellschaftung einer antineoliberalen Struktur.

Viele halten die Dringlichkeit von radikaler Veränderung nicht aus. Sie resignieren, setzen bloß noch auf kleinste Schritte oder die großen Abkürzungen, verdrängen, was sie sehen oder flüchten in die Romantik träumerischer Utopien. Eines der zentralen Evolutionsgeheimnisse des Kapitalismus ist seine ständig erneuerte Fähigkeit zur Herstellung von solchen (und Tausend mehr) Möglichkeiten, derlei Fluchten so hinzuregeln, dass sie ihn verändern, aber seine Identität sichern. Die Linke hat, nicht erst seit Rosa Luxemburg, diese Frage nach ihrer eigenen Evolution so beantwortet: es gilt, Reform und Revolution zu vermitteln in einem Prozess der strategischen Transformation und damit der radikalen Realpolitik.

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