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Rainer Rilling

Stellungnahme zur zweiten Runde "Formen und Inhalte der politischen Kommunikation im Cyberspace" der Sitzung der Enquete- Kommmission des Deutschen Bundestages "Zukunft der Medien in Wirtschaft und Gesellschaft - Deutschlands Weg in die Informations- gesellschaft" am 2. 2. 1998 zum Thema "Elektronische Demokratie - Anwendungsformen neuer Medien im öffentlichen und staatlichen Bereich"

 

Der Gesang der neuen Läutwerke.
Über politische Netzkommunikation.
 

"Und was das Telefon betrifft", erklärt der Dorfvorsteher dem Landvermesser K. in Kafka`s "Das Schloß": "Sehen Sie, bei mir, der ich wohl wahrlich genug mit den Behörden zu tun habe, gibt es kein Telefon. In Wirtsstuben und dergleichen, da mag es gute Dienste leisten, so etwa wie ein Musikapparat, mehr ist es auch nicht. Haben Sie schon einmal hier telefoniert, ja? Nun also, dann werden Sie mich vielleicht verstehen. Im Schloß funktioniert das Telefon offenbar ausgezeichnet; wie man mir erzählt hat, wird dort ununterbrochen telefoniert, was natürlich die Arbeit sehr beschleunigt. Dieses ununterbrochene Telefonieren hören wir in den hiesigen Telefonen als Rauschen und Gesang, das haben Sie gewiß auch gehört. Nun ist aber dieses Rauschen und dieser Gesang das einzig Richtige und Vertrauenswerte, was uns die Telefone übermitteln, alles andere ist trügerisch. Es gibt keine bestimmte telefonische Verbindung mit dem Schloß, keine Zentralstelle, welche unsere Anrufe weiterleitet; wenn man von hier aus jemanden im Schloß anruft, läutet es dort bei allen Apparaten der untersten Abteilungen oder vielmehr, es würde bei allen läuten, wenn nicht, wie ich bestimmt weiß, bei fast allen dieses Läutewerk abgestellt wäre."

1 Politsche Netzkommunikation: Angebot und Nachfrage

Empirisch gehaltvolle Untersuchungen, die politische Netzkommunikation in der Bundesrepublik Deutschland zum alleinigen Thema haben, gibt es bislang kein halbes Dutzend. In einer Handvoll weiterer Untersuchungen wird die Frage beiläufig behandelt. Aussagen zur politischen Netzkommunikation müssen daher zusätzlich auf die - allerdings ebenfalls raren - US -amerikanischen Untersuchungen zurückgreifen und stehen daher unter kräftigem Vorbehalt.

Über Jahre hinweg gehörte zum massenmedial vermittelten Bild des Internets eine Aussage über die dort vorgeblich in erster Linie kommunizierten Inhalte. Zu ihnen sollte neben Gewaltpropaganda, Pornographie, Spielen usw. auch Politik gehören, genauer: Inhalte politisch "extremer" Gruppen. Mit der zunehmenden Netzpräsenz etablierter politischer Organisationen ist dieses Bild verblasst und die Behauptung, dass politische Netzkommunikation primär von den Flügeln des politischen Spektrums geprägt sei, ist mit einem Blick auf die gängigen Verzeichnisse und Kataloge falsifiziert.

Tatsächlich muss aber auch von einer insgesamt relativ marginalen Rolle politischer Netzkommunikationen ausgegangen werden, wie ein Blick auf die quantitativen Dimensionen von Angebot und Nachfrage politischer Netzkkommunikationen zeigt. Auf der "Angebotsseite" befassen sich beispielsweise

* weltweit von den 107 235 im Verzeichnis www.liszt.com aufgeführten Mailing-Listen und Newsgroups knapp 400 explizit mit dem Themenbereich "Politik" (29.1.1998) * verzeichnete der führende Katalog "Yahoo.com" 14 389 von rund 300 000 WWW-Sites unter der Rubrik "Government", der deutsche "Yahoo"-Katalog 1677 unter der Rubrik "Staat und Politik" (darunter 378 zum Themenbereich "Recht" (27.10.1997). * verzeichnen die Kataloge "Politischen Kommunikation" (Friedrich-Ebert-Stiftung) und "Wissenschaft plus Politik" (Universität Marburg) gegenwärtig ca. 500 bundesdeutsche politische Web-Angebote; hinzu kommen einige Dutzend Mailing-Listen und Newsgroups und die weiterhin relevante politische Mailboxszene.

Insgesamt dürfte der Anteil politischer Sites in der Bundesrepublik bei gut einem halben Prozent liegen, in den USA sind es höchstens 2 Prozent 1. Sehr bemerkenswert aber ist, dass sich die Anzahl dieser Sites seit Herbst 1996 verdoppelt hat, absolut gesehen also die Präsenz der Politik auf dem Netz zunimmt.

Auch auf der Nachfrage- oder Nutzungsseite spielt Politik im Gesamtspektrum der Netzkommunikation keine herausragende Rolle. In den Ranglisten verbreiteter Spezialverzeichnisse, die Häufigkeiten der Zugriffe auf Netzangebote dokumentieren, kommen politische Angebote nicht vor. Politik wird (bestenfalls) mitgelesen bei der Nutzung der allgemeinen Netzangebote etablierter Medien (CNN, Time, FOCUS, Stern, SPIEGEL, Welt usw.), nur die zentralstaatlichen politischen Netzangebote (Bundestag / Bundesregierung oder Weisses Haus / US-House) haben mittlerweile wenigstens ansatzweise vergleichbare Nutzungsziffern. Die Angebote anderer staatlicher Stellen und politischer Organisationen werden demgegenüber weitaus weniger wahrgenommen. 2

Der Gebrauch eines Medium durch - im Falle des World Wide Web - weltweit wohl rund 100 Millionen Nutzer und Nutzerinnen 3 ist stark differenziert. Gegenüber der eingangs vermerkten nachrangigen Rolle der politischen Kommunikation im Gesamtspektrum der Netzkommunikation verweisen neuere US-amerikanische Untersuchungen auf zwei wesentliche Sachverhalte:

* Jene, die das Netz intensiv nutzen, sind offenbar überdurchschnittlich politisch interessiert und aktiv 4

* Im gesamten politischen Kommunikationsverhalten spielen netzvermittelte Kommunikationen zu Lasten anderer Medien eine gegenwärtig noch sehr geringe, aber wachsende Rolle.

Die Studie von Hill Wide: Legislative InformationTechnology 5 für das US-Repräsentantenhaus vermerkt, dass es während der Wahlen zum amerikanischen Parlament im November 1996 zu einem "substantiellen Anstieg der politischen Onlineaktivitäten" gekommen sei und von einem "potentiell wichtigen Einfluss (des Internets) auf die Politik" ausgegangen werden müsse. Eine diese Wahl begleitende Befragung des Winston Strategic Information and Wirthlin Worldwide ergab, dass 8,5 Millionen US-Wähler - eine/r von 11 - nach ihrer Meinung wahlverhaltensrelevante Informationen und Meinungen über das Netz bezogen 6. Die neue "American Internet User Survey 1997" (FIND/SVP) hält sogar ein ausgeprägtes Interesse aller US-Netznutzer am Thema "Government / Community" fest 7 - ein allerdings mit Skepsis zu betrachtendes Resultat. Deutsche Befragungen der Netznutzer haben bislang entsprechende Inhaltspräferenzen nicht abgefragt.

Das Bild, das sich bietet, ist also widersprüchlich. Politische Kommunikation spielt im neuen Massenmedium Netz eindeutig eine marginale Rolle, aber im Gesamtspektrum massenmedialer politischer Kommunikation ist politische Netzkommunikation offenbar zunehmend gewichtig. Medienbewußte politische Akteure tun gut daran, diesen Relevanzzuwachs netzvermittelter Politik zu berücksichtigen.

2 Merkmale politischer Netzkommunikation

Als unstrittig kann gelten, dass die finanziellen, technischen und kulturellen Zugangsschwellen zu Medien der Netzkommunikation in den letzten Jahren gesunken sind. Die Transformation des Internets zu einem - auch politischen - Massenmedium macht es jedoch notwendig, von den Internet Dreams der Ineinssetzung der technischen Dezentralität politischer Kommunikation mit politischer Demokratisierung und den Idyllen "weltweit lesbarer" Homepages einzelner Individuen Abschied zu nehmen. Es geht um die dramatischen Veränderungsprozesse, welche die Gesamtstruktur der netzvermittelten politischen Kommunikation seit 1995/6 durchlaufen hat. Drei Typen politischer Kommunikation spielen in dieser Struktur die wichtigste Rolle:

* Es herrschen Angebote und Projekte des politischen Marketings vor. Sie knüpfen an "pop/interactive" Medienformate an, die sich in den USA Ende der 80er Jahre durchzusetzen begannen und die mit Begriffen wie "Talkshows", "Popcampaigning", "Interaktion (Feedbackpolitik)" charakterisiert sind 8. Solche Formen der Selbstdarstellung und Vorführung politischer Identität auf dem Medienmarkt können sich mittlerweile fringe groups, politisch periphere Organisationen nicht entziehen. Das Netz befördert die Verbreitung solcher Formate und ermöglicht zugleich ihre Feindifferenzierung ("narrowcasting").

* Sodann gibt es Projekte zur Rationalisierung politischer Kommunikation ("bürgernahe Verwaltung") mit meist informatorischem, zuweilen konsultativem, die politischen Entscheidungsprozesse im engeren Sinn jedoch fast durchgängig ausnehmenden Charakter.

* Angebote / Projekte gesellschaftlicher Organisationen, Initiativen und Bewegungen (virtuelle Städte und Dörfer, Elektronisches Wählen, Cybercampaigning), die auf bottom-up-Meinungs- und Willensbildung zielen und häufig in der Tradition der single-purpose-Ansätze der 70er Jahre stehen, sind demgegenüber mittlerweile zwar keineswegs irrelevant, aber deutlich minderrangiger und weit weniger sichtbar.9

Praxis und Form politischer Netzkommunikation haben sich verändert. Dabei zeigen sich Eigenheiten, die eine bemerkenswerte Unikalität dieses Mediums für politische Kommunikationsprozesse vermuten lassen. Politische Websites bieten zunehmend Raum für komplexe Bedürfnisse und Verhaltensweisen, indem sie verschiedenste Dienste offerieren (News, Newsgroups, Chats, Datendienste wie FTP), durch professionalisiertes Design und Beratung medientechnische und ästhetische Bedürfnisse befriedigen, Ereignisse inszenieren oder dem Interesse nach Recherche und Dokumentation nachkommen. Dieser Plattformcharakter ist genuin. Andere Medien können eine solche ortsgebundene und zeitgleiche Komplexität politischer Kommunikation nicht herstellen. Während diese Komplexität bislang wenig beachtet wurde, richtet sich die Aufmerksamkeit immer wieder auf die oftmals hervorgehobene Bi- oder Multidrektionalität politischer Kommunikation ("Interaktion"). Dabei wird häufig außer Acht gelassen, dass die technischen Basisdienste des Netzes eine beträchtliche Differenzierung der Handlungsoptionen bedingen, die auch auf dem Feld politischer Kommunikation wirksam werden. Betrachtet man die zentrale Plattform oder Schnittstelle zum Netz - das World Wide Web - dann zeigt sich, dass sogar in der Gruppe der hoch netzaktiven und politisch stark interessierten Bürger, deren Größe in der Bundesrepublik Deutschland bestenfalls in den fünfstelligen Bereich hineinreichen dürfte, das bislang medientypische Verhalten des Surfens und Flanierens eine große Bedeutung hat. Diese Form der passive Nutzung des Mediums dominiert ohne jeden Zweifel weiterhin.10 Unter dem interaktiven Aspekt spielen demgegenüber die asynchronen, interaktiven und verteilten medienspezifischen Kommunikationsformen des Usenet und der Mailinglisten im politischen Bereich eine stabile Rolle, bei denen (im Falle des Usenets) Sender und Empfänger ihr Verhältnis wechseln können. Wie beim E-Mailing wird hier zumeist nicht in Schriftsprache, sondern in Sprechschrift kommuniziert, d.h. die Schrift folgt eher den Regeln des Sprechens als denen einer schriftlichen Darlegung. Die politische Relevanz der damit zusammenhängenden Ausdehnung des Raums informeller Kommunikationspraxen im öffentlichen Raum liegt sicherlich in der Relativierung eingesessener und oftmals abschreckend formeller ("staatsmännischer") Kommunikationen. Ihr Gewicht wird freilich überschätzt. Im Falle der E-Mail-Kommunikation selbst ist nach Bimber eine Aufspaltung des Kontaktverhaltens zu beobachten: mit nationalen Adressen (Regierung, Bundesverbände u.ä.) wird zunehmend mit E-Mail kommuniziert, wogegen "alte" Medien (Telephon, Briefpost) bislang das bevorzugte Kommunikationsmittel für lokale oder auch regionale politische Adressen geblieben sind - eine Art Nationalisierung des politischen Kommunikationsverhaltens also. Fast durchgängig wird in der an diesem Beispiel besonders gut deutlich werdenden geografischen Reichweite politischer Kommunikation ein neues Merkmal dieser Kommunikationsform gesehen, was zweifellos zutrifft. Allerdings wird dieser Sachverhalt rapide durch den Aufbau institutions- und organisationsinterner Intranets mit mächtigen Grenzen und präzisen Zugangs- und Nutzungsregeln relativiert 11. Ingesamt sind originäre Formen politischer Kommunikation entstanden, deren Komplexität, Interaktivität und Differenziertheit auf eine Neubeanspruchung und vor allem Beschleunigung des Operierens von Politik hinauslaufen - "Im Schloß funktioniert das Telefon offenbar ausgezeichnet; wie man mir erzählt hat, wird dort ununterbrochen telefoniert, was natürlich die Arbeit sehr beschleunigt." Die zeitkritische Dimension in der Politik schlägt massiv durch: Politik ohne Ende - eine neue Ökonomie der politischen Zeit entsteht, die eine außerordentliche Verdichtung und Intensivierung politischer Kommunikationsprozesse mit sich bringt. Die Beherrschung dieses Prozesses ist eine immer wichtigere Bedingung erfolgreicher Politik - gleichgültig welcher Richtung.

3 Akteure politischer Netzkommunikation

Verbreitet ist die Rede von einer Neuverteilung politischer Macht angesichts der Ausbreitung des neuen Mediums Netz. Wenn Macht neu verteilt wird, fragt sich, wohin sie geht, wer gewinnt und verliert. Drei Kategorien politischen Akteure prägen schon jetzt und vor allem zukünftig die Arena politischer Netzkommunikation:

* mit Abstand an erster Stelle große Medien - Inhaltsanbieter (Content-Provider), die Politik als mitlaufendes aktuelles Infotainment verkaufen.

* kapitalstarke politische Netzunternehmer, die imstande sind, große zentralisierte Netzwerke mit schwachen Bindungen ("weak publics") zu organisieren. Nur sie sind imstande, die großen Mengen an Daten über Menschen und deren Eigenschaften, Interessen und Interaktionen zu bearbeiten (und zu kontrollieren), die das Internet bereitstellt. Und nur sie können Netzinteraktivität in massenpolitisch handhabbare zielgruppen- und zielpersonspezifische Feedbacks umwandeln. Diese virtuellen politischen Netzunternehmer sind fast völlig identisch mit den handlungsfähigen politischen Unternehmern in real life, also staatliche Einrichtungen, Parteien, Großorganisationen. In der Anhörung der Enquete-Kommission am 22. 9. 1997 sind hierzu bereits eine Reihe von Untersuchungen vorgestellt worden. Masser / Gerhards (Speyer) haben zu den Kommunen und neuerdings auch den Bundesländern Rankingstudien vorgelegt 12, die insgesamt bei einer positiven Grundbewertung kritischen Schlußfolgerungen einschließen. Sie monieren dabei ein Überwiegen der klassischen Formen der Informationsversorgung und Selbstdarstellung gegenüber neuen Formen der (interaktiven und prozessnahen) Kommunikation, das weitgehende Fehlen einer Förderung dieser neuen Formen der Kommunikation gegenüber "klassischen Subventionsbereichen", was sich faktisch als Akzeptanz des Ausschlusses der "Have-Nots" darstelle, sowie die unzureichende öffentliche Förderung und Entwicklung medialer Kompetenz. Ergänzen ließe sich diese Einschätzung durch den Hinweis auf die sehr großen Entwicklungsunterschiede auf allen staatlichen Ebenen und die verbesserungsfähige Kommunikation der verantwortlichen Akteure untereinander. Insgesamt bleibt der Aufbau von Ressourcen politischer Netzkommunikation im staatlichen Bereich wie bei den Parteien ungeachtet der beträchtlichen Fortschritte seit ca. Anfang 1996 weit hinter der Entwicklung in den USA im gleichen Zeitraum zurück 13.

* Schließlich Aktivbürger und politische Akteure, die sich die Kosten- und Verbreitungsvorteile des Netzes nischenpolitisch für Spezialöffentlichkeiten zunutze machen können. Ihre Sichtbarkeit und ihre Kapazität zur Erhebung und Verarbeitung politischer Daten sind weitaus geringer. Die elektronische Bürgeransprache durch politische Organisationen spielt gleichwohl bislang nur eine sehr geringe Rolle, trotz der Leichtigkeit und geringen Transaktionskosten. Sie findet in den USA am ehesten noch durch lokale Gruppen nationaler Organisationen statt - in der Bundesrepublik dagegen wird die organisationsinterne Vernetzung politischer Organisationen des gesellschaftlichen Raums erst seit 1966/7 vorangetrieben.

Wenig bemerkt von der politischen und netzeigenen Öffentlichkeit hat es im November / Dezember 1997 ein äußerst bemerkenswertes Beispiel für die neue allianzpolitische Rolle des Netzmediums im politischen Kommunikationsprozess gegeben. Im Zusammenhang mit den über die Gruppe der Studierenden weit hinausgehenden Protesten an den Hochschulen hat sich eine "digitale Protestinfrastruktur" 14 konstituiert, in der die Netze als verallgemeinerndes Identifikations-, Organisations- und Koordinationsinstrument einer politischen Bewegung fungierten und zur einer außerordentlichen Interaktions- und Deliberationsdichte beitrugen. Dieses Beispiel ist auf absehbare Zeit mit Sicherheit noch atypisch, da eine gesellschaftlichen Verallgemeinerung vergleichbar kostengünstiger Zugangsmöglichkeiten, technischen Wissens und medialer Kulturtechniken beim augenblicklichen Stand der Netznutzung in der Bundesrepublik und der öffentlichen Förderung ihrer Verbreitung auf sich warten lassen wird. Es zeigt aber, dass Netze eine im Wortsinn ausgezeichnete, von anderen Medien nicht zu erreichende Rolle im Bildungsprozess demokratischen Bewußtseins und öffentlichen politischen Handelns spielen können 15. Demokratiepolitische Potentiale konnten unter diesen Bedingen realisiert werden:

* die leichte Zugänglichkeit zu lokal verfügbarer Datenverarbeitung und dezentralisierten Datenbeständen senkt die Zugangsschwellen für Informationen, wodurch die verfügbare politische Information rapide zunahm;

* die Bereitstellung, Verteilung und Aufnahme politischer Informationen wurde außerordentlich beschleunigt, die Selektivität bei der Nutzung und Verteilung politischer Informationen wurde erhöht;

* es wurde möglich, Interessen- und auch Expertenwissen schnell zu verallgemeinern, zu pluralisieren und zu kritisieren

* die Bildung politischer Meinungen und Positionen und ihre politikfähige Verallgemeinerung wurden offenbar erleichtert.

Vereinzelte Informationen über die Effekte dieses digitalen Aufbegehrens auf die normativen Regulierungen innerinstitutioneller Kommunikation im Hochschulbereich legen freilich nahe, dass die Öffnung zur Politik nicht nachhaltig war und die Chance zur dauerhaften Etablierung eines institutionell abgesicherten und legitimen, übergreifenden politischen Kommunikationsmodus nicht ergriffen wurde. Die Skepsis über das institutionelle Veränderungspotential politischer Netzkommunikation ist daher zunehmend verbreitet, zumal bei einem Blick auf die Verhältnisse jenseits solcher exzeptioneller, situativ bedingter Prozesse die Annahme naheliegt, dass sich in der Distribution der Akteursmacht im Netz der mittlerweile dominierende Umbau des Netzes zu einem Verteilmedium zeigt - "so etwa wie ein Musikapparat, mehr ist es auch nicht." Ein wesentlicher Grund für diese Veränderung ist die Entwicklung des multimedialen WWW zur allgemeinen Benutzerschnittstelle des Netzes: das WWW transformiert das Netz in ein Medium, das die Konsumtion oder Nutzung außerordentlich demokratisiert, die Produktion jedoch mittlerweile durch die Entstehung einer differenzierten und hochprofessionalisierten technischen Kultur dramatisch verändert. Die Aneignung dieser Kultur setzt immer mehr ökonomisches und soziales Kapital voraus, das von Privatpersonen nicht mehr realisierbar ist. Damit wird das Zentrum des Interaktivitätsversprechens des neuen Mediums zerstört: der unschwere Rollenwechsel zwischen Produktion und Konsumtion. Der aktuelle Trend, im Zeichen der Konvergenz der PC- und TV-Kultur auf dem Internet die "Channel"- und "Push"-Praxis zu favorisieren, geht in diese Richtung.

Dadurch, dass politische Kommunikation medienvermittelt geschieht, muss sie ihren öffentlichen Charakter nicht verlieren. Insgesamt setzt die gegenwärtige Struktur des Netzes noch Akzente in Richtung der Ausweitung des öffentlichen Raums und der Ergänzung klassischer "Abwärtskommunikation" durch "Aufwärtskommunikation" und horizontale Kommunikation. Neben den überwiegend distributiven Formen politischer Kommunikation sind interaktive und "polydirektionale" Formen entstanden, die sich rechtlichen noch technischen Arrangements entziehen können. Gleichwohl wirft die Frage nach der öffentlichen Natur netzvermittelter politischer Kommunikation ein empirisches und ein theoretisches Problem auf. Das empirische Problem besteht in dem unübersehbaren Wissensdefizit über die Kommunikationspraxis im Netz: Aussagen über politische Elemente der weitaus wichtigsten Netznutzung (dem Schreiben, Lesen und Versenden von E-Mails) lassen sich mangels vorliegender Untersuchungen gegenwärtig nicht machen. Dasselbe gilt fast uneingeschränkt für Mailinglisten und Diskussionsgruppen. Auch das Nutzungsverhalten im WWW (welche medienpolitischen Erwägungen und Entscheidungen spielen bei der Einrichtung politischer Sites eine Rolle? Oder welche Motive prägen die "User"praxis?) ist bislang in der Medienwissenschaft (oder einer politischen Soziologie des Internets) nicht bearbeitet. Und vor allem: welche Bedeutung diese Kommunikationsformen für das reale politische Meinen und Verhalten der Menschen hat, ist beim gegenwärtigen Stand der wissenschaftlichen Bearbeitung solcher Fragen weithin der Spekulation überlassen. Das theoretische Problem besteht darin, dass die Rolle politischer Öffentlichkeit in der Demokratie darin besteht, als ein Medium und Raum für die Entstehung eines allgemeinen politischen Willens zu fungieren. Da angesichts der in die Technik des Netzes eingeschriebenen praktischen Grenzenlosigkeit eine gültige Konstitution politischer Allgemeinheit (und damit auch Repräsentativität) nicht möglich ist, zudem Entscheidung im "Cyberspace" nicht verbindlich durchgesetzt werden können ("Exit" ist möglich), geht die Rede von "der" Netzöffentlichkeit und "der" politischen Willensbildung im Netz fehl. Es geht um "Netze" und "Öffentlichkeiten", die Orte der vielfältigen Kommunikation sind, ohne die Entscheidungen undemokratisch und ineffektiv sind. Netze werden immer häufiger genutzt als Räume der zweckgerichteten, nämlich entscheidungsvorbereitenden interaktiven Kommunikation zur Meinungsbildung und Interessenvertretung. Das politische Kunststück besteht darin, Wege zu einer möglichst breiten Nutzung dieser Möglichkeiten zu öffnen und offen zu halten.

4 Handlungsoptionen

1. Mittlerweile kann als erwiesen gelten, dass der Markt ein ungeeignetes Mittel ist, einkommensschwache, bildungsärmere, regional periphere und sozial benachteiligte Gruppen in ein solches Medium hineinzuziehen. Der Ausbau vor allem der partizipatorischen Akzente der politischen Onlineangebote und Unterstützung u.a. durch Pilotprojekte der privaten / gemeinnützigen Onlineinitiativen in Form von Private-public-partnerships ist eine unersetzliche Schlüsselfunktion öffentlicher Netzpolitik.

2. Ausbau des Auftretens der öffentlichen Hand als Content-Provider, um der Gesellschaft, aber auch den finanzschwachen Abteilungen der öffentlichen Hand die Kostenvorteile elektronischer Informationsdistribution und -kommunikation zu gewährleisten. Das betrifft auch die Angebote selbst: politische Optionen, Planungen, Simulationen, Szenarien müssten zur Diskussion - sicherlich nicht zur Entscheidung - gestellt werden. Die Möglichkeiten, z.B. zu Projektdatenbanken im Zusammenhang mit Haushaltserarbeitungen oder öffentlichen Ausschreibungen zuzugreifen sind in den USA auf Bundes- wie Länderebene zunehmend entwickelt. Eine Voraussetzung dafür ist der Aufbau von Intranets und die Entwicklung sorgfältiger Schnittstellen zum Internet.

3. Politik wäre die Kunst, Menschen durch Kommunikation zu verbinden zu gemeinsam getragenen Handeln. Group Decision Support Systems, Groupware-technik, Workgroup Computing sind sich rasch ausdehnende Sozialtechniken dezentraler kooperativer Entscheidungsfindung im privatwirtschaftlichen Bereich. Zu untersuchen und durch praktische Pilotprojekte experimentell zu überprüfen wäre, ob solche Techniken der Effektivierung und - so wäre hinzuzufügen - Demokratisierung nicht nur in Großunternehmen wie IBM oder General Motors oder in deutschen Firmen, sondern auch im politischen Bereich eine sinnvolle politische Innovation auf dem Weg zu einer Informationsgesellschaft wären.

4. Unmittelbare Handlungsmöglichkeiten für die öffentliche Hand ergeben sich ebenfalls auf dem Feld der Medienkompetenz und Pädagogik politischer Medien (Politische Bildung). Zu fördern wären Projekte und Programme, welche die Fähigkeiten der Menschen entwickeln oder verbessern, kompetent die Angebote und Praktiken elektronischer Kommunikation zu evaluieren bzw. zu bewerten und selbst zu solche Angebote zu erstellen - nicht nur im Bildungsbereich (Schulen und Hochschulen). Entsprechende Projekte gibt es in rasch wachsender Zahl in den USA seit langem.

Vielleicht taugt dann das neue Läutewerk dazu, eine neue, eigene Melodie zu singen, welche die politischen Verhältnisse zum Tanzen bringt - im globalen Dorf wie in den neuen Schlössern.

1 URL von "W plus P": http://staff-www.uni-marburg.de/~rillingr/home.html und der Friedrich-Ebert-Stiftung: http://www-fes.gmd.de. Eine umfangreiche Spezialbibliographie zum Thema "Demokratie und Netze" findet sich auf dem WplusP-Site http://staff-www.uni-marburg.de/~rillingr/net/netmat/netdem.htm).
2 Vgl. die Verzeichnisse Web-Counter Top 100 List (URL: http://www.digits.com/top), Webhits (URL: http://www.b-online.de/webhits/)und 100hot Websites (URL: http://www.100hot.com) sowie die Zusammenstellung der am häufigsten eingegebenen Suchbegriffe der Kolibri-Suchmaschine (URL: http://www.kolibri.de/noframes/detopten.html). Von einer (!) Ausnahme abgesehen kommen politische Angebote nirgends vor, es domineren Unterhaltungsangebote, Medien und netzbezogene Sites (28. Dezember 1997). Siehe auch die Onlinenutzungsdaten für den November 1997 der Informationsgemeinschaft zur Feststellung der Verbreitung von Werbeträgern e.V.( http://www.ivw.de/data/nov97.html); erfasst wurden hier für November 1997 67 Sites, unter denen kein Site mit überwiegend, hälftig oder auch nur gewichtig politischem Angebot ist. Ein Beispiel zu den Größenordnungen: während im Sommer 1997 http://www.bundespraesident.de wöchentlich 800 - 1 000 Besuche aufzuweisen hatte, zählte Beth Mansfield`s Site "Persian Kitty`s Adult Links" 425 000 tägliche Aufrufe.
3 NUA Internet Surveys v. 6.1.1998. Freilich: weltweit sehen wöchentlich 1,4 Milliarden Menschen die Fernsehserie "Baywatch". Auch die Kosten der Netzpolitik sind vergleichweise geringfügig: der US-Wahlkampf in 1996 kostete ca. 1,5 Mrd Dollar, die Ausgaben der Parteien für Netzpolitik werden auf ca. 6 Millionen Dollar geschätzt, siehe Diamond, Edwin, Silverman, Robert A.: White House to your House. Media and Politics in Virtual America, MIT Cambridge Pb 1997, S. 164.
4 Siehe die 8. WWW-Umfrage der GVU von Oktober/November 1997; Katz, J.(1997): The Digital Citizen http://www.hotwired.com/special/citizen/ sowie vor allem Klinenberg, E., Perrin, A., Symbolic Politics in the Information Age. The 1996 Presidential Campaigns on the Web, Berkeley 1996 (URL:http://demog.berkeley.edu/(aperrin/infosociety.html) und Bimber, B.: The Internet and Political Communication in the 1996 Election Season. Research note, 10.5.1997, http://www.sscf.ucsb.edu/survey1/mobilize.htm. Weit mehr noch als in den USA ist diese Gruppe hierzulande sozial der Mitteklasse zuzurechnen, oftmals mit Hochschulabschluss, erwerbstätig und mit vergleichweise großer individueller Zeitautonomie ausgestattet. Nur wenige Have-Nots betreiben "politische Kommunikation im Cyberspace".
5 http://www.house.gov/rules_org/legtech.htm
6 S. Buie, J. (1997). How the internet is changing politics. In: http://www.us.net/indc/column2.htm
7 Nach "News", "Hobbies", "Reisen" und "Unterhaltung" mit fast 50 % an fünfter Stelle in einer Liste der zehn meist nachgefragten Inhalte, s. http://etrg.findsvp.com/internet/top.html
8 S. Diamond, E. Silverman, R. A.: White House to your House. Media and Politics in Virtual America. Cambridge 1997.
9 Vgl. die sehr optimistische Skizze bei Geser, H.: Die Neuerfindung der politischen Öffentlichkeit, Zürich 1998, URL: http://socio.ch/intcom/t_hgeser06.htm sowie die auf dem Hamburger Kongress der IMD-Initiative im Januar 1996 zusammengetragenen Beispiele, vgl. E. Bulmahn u.a.: Informationsgesellschaft * Medien * Demokratie. Marburg 1996
10 Siehe im Falle der USA Bimber, B.: The Internet and Political Communication in the 1996 Election Season. Research note, 10.5.1997, http://www.sscf.ucsb.edu/survey1/mobilize.htm. Aktive Nutzung würde hier zum Beispiel bedeuten, die dortigen Feedbackangebote zu nutzen (hierzu gibt es keine Daten) oder eigene Angebote zu entwickeln und sie aktiv durch Links zu vernetzen, also auf die Verteilung politischer Aufmerksamkeit Einfluß zu nehmen und insofern WWW-spezifisch politisch zu handeln. Zum Beispiel verwiesen nach einer Recherche mit der Suchmaschine Alta Vista (8.3.98) 1238 Web-Sites auf das Webangebot des Bundespräsidenten.
11 Vgl. Troles, E. (KBSt): Das Intranet der Bundesregierung, 1997 (http://www.kbst.bund.de/ivbbinfo/ftvi97/ftvi97.html).
12 Masser, K., Gerhards, R.: Kommunen im WEB-TEST (http://www.hfv-speyer.de/klages/WEBTEST/WEBTES.HTM) sowie diess., WEBT-TEST II: Bundesländer im Vergleich ( http://www.hfv-speyer.de/klages/WEBTEST/2.HTM) - in: die innovative Verwaltung 3/1997 sowie 5/1997.
13 Im Januar 1995 hatten 51 Mitglieder des US-Repräsentantenhauses eine E-Mailadresse und kein einziger Ausschuss hatte eine Website; Am Ende des 104. Kongresses hatten 164 Parlamentarierer eine Mailadresse, 222 Parlamentarier, 27 Ausschüsse und 11 Parlamentsbüros WWW-Sites, die rund 2 Mio. mal monatlich besucht werden. Im Repräsentantenhaus stieg die Anzahl der Internetverbindungen von 80 auf 783, die von 655 verschiedenen Büros benutzt werden, vgl. The Computer and Information Services Working Group: CyberCongress Accomplishments During the 104th Congress. Bericht an The Committee on House Oversight v. 11.2.1997 (http:// www.house.gov/rules_org/accomp21.htm); Griffith, J. B.: (CRS): Legislative Information Technology (http://www.house.gov/rules_org/legtech.htm); Electronic Devices in the House Chamber? A Report to the Subcommittee on Rules & Organizations of the House v. 21.11.1997 (http://www.house.gov/ruels_org/e-devices.htm).
14 Bieber, C., Hebecker, E.: Virtuoser Protest im Datenraum. Zur Entsehung digitaler Bewegungsnetzwerke im Hochschulstrik, in: Telepolis (http://www.heise.de/tp/deutsch/inhalt/te/3165/1.html)
15 Inwieweit sich das demokratiepolitische Potential der Netze auf die Demokratisierung unmittelbarer politischer Entscheidungen erstreckt, ist sehr diskussionswürdig, vgl. Rilling, R.: Politische Netzkommunikation und Entscheidung, Loccum November 1997 ; ders.: Internet und Demokratie, in: WSI-Mitteilungen 3/1997.

 

 

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