Rainer Rilling

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Vortrag auf dem Fachkongress "Politik und politische Bildung für das 21. Jahrhundert" aus Anlass des 50-jährigen Jubiläums von Arbeit und Leben DGB/VHS Nordrhein-Westfalen in Zusammenarbeit mit dem Forschungsinstitut für Arbeiterbildung am 10. März 1999, Recklinghausen, Haus der Ruhrfestspiele.

erschienen in: FAB: Jahrbuch Arbeit * Bildung * Kultur Band 17 (1999) S. 69-78

 

Elektronische Kommunikations- und Informationsnetze - Chancen und Aufgaben für die politische Bildung

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Das auslaufende Jahrhundert war, wir wissen es, auch geprägt durch eine ausserordentliche Innovation: die Erfindung der globalen Massenmedien Print, Film, Radio, Fernsehen. Seit vielleicht einem Jahrfünft begreifen wir sukzessiv, dass am Ende dieses Jahrhunderts ein weiteres Massenmedium hinzugekommen ist, welches nach allem, was wir annehmen können, die vorangegangenen aufheben wird: das Internet etabliert sich als neues machtvolles Medium eigener Qualität, welches die anderen nicht verdrängt, sondern umwälzend weiterentwickelt. Binnen weniger Jahre ist es unmöglich geworden, von den historischen, sogenannten "alten" Medien zu sprechen, ohne ihre grundlegende Veränderung durch die elektronische Vernetzung, also ihre sukzessive Verwandlung in neue Medien zu berücksichtigen. Medien- wie Kommunikationsforschung, vor allem aber Medienkritik, die kritische Auseinandersetzung mit allen medial vermittelten Verhältnissen, welche die Menschen untereinander eingehen und, endlich, Medienpolitik - dies alles ohne Einbeziehung und Reflektion der technischen Informationalisierung der Menschenwelt zu betreiben, von der die Elektronisierung der Massenkommunikation ein (vielleicht der) Schlüsselvorgang ist, ist nicht mehr möglich. Die technische, computervermittelte Informationalisierung der Gesellschaft, also auch der Politik und Bildung und Medien steht nach Lage der heutigen und absehbaren Dinge nicht zur Disposition. Nachdem die Informationstechnologie die Produktions.- und Konsumtionssphäre umgewälzt hat, fällt sie nun als globale Kulturtechnologie auf uns zurück. Man mag sich ihr im Kopf entziehen und sie in Beruf oder Freizeit ignorieren wollen, aber man wird von ihr unvermeidlich betroffen und getroffen werden.

Dies vorweg festzuhalten ist kein Medienhype, Technikfetischismus oder -determinismus, denn wie dieses Massenmedium technisch konstruiert wird und welche ökonomische, soziale, politische und kulturelle Struktur, Form und Funktion es hat, ist Resultat menschlichen Handelns und der Bedingungen seiner Entwicklung. Wer die Ressource und die Macht zu wirkungsmächtigem, also bleibendem Handeln hat, ist freilich eine andere Frage, die beim Reden um`s Internet zu oft vergessen wird.

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Es geht um "Chancen und Aufgaben politischer Bildung" im Zeichen elektronischer Kommunikations- und Informationsnetze. Die erste Chance der politischen Bildung ist, dass sie einen vorhandenen Wissens-, Methoden- und Erfahrungsbestand, in Jahrzehnten gewonnen anhand der einst "alten" Medien, nicht verliert, er nicht entwertet wird, sie ihn nutzen kann - und sie ihn kritisch weiterentwickeln muss. Es besteht kein Anlaß, auf ihn zu verzichten, denn dadurch, dass alle Medien neu werden durch die Welt der vernetzten Computer, wird dieser nützliche Bestand nicht wertlos. Er bleibt - und er wird herausgefordert. Wir können und müssen an das Massenmedium Internet klassische, traditionelle Fragen der Medienanalyse und -kritik stellen. Also etwa

2.1. Erstens die alten Fragen der politischen Ökonomie: die Fragen nach Eigentum, Besitz, Verfügung, Profit. Dass der gängigen Frage: "Wem gehört das Internet?" als noch gängigere Antwort das Wort "niemandem" beigesellt wird (und das ist nebenbei nicht bloß ein privater Erfahrungswert aus zunehmend verwundertem Nachfragen, sondern ein erstaunlich einhelliges Resultat aus den modernen Wahrheitsapparaten, den Suchmaschinen), das sollte uns nicht bloss misstrauisch machen, sondern verweist uns zugleich auf ein massives Desiderat: eine kritische "Politische Ökonomie der Netze" - etwa in dieser Republik - steht noch aus. Warum haben hierzulande schon über 10 Prozent der Bevölkerung und 8 % der Haushalte privat oder beruflich einen Netzzugang, über drei Millionen Menschen sind täglich fast 40 Minuten online - und es gibt keine einzige handliche und gelehrige kleine Einführung in die Ökonomie dieser Netze, die uns mitteilt, wem sie gehören, wer an ihnen verdient und sie bedient, wer sie beschickt und wer sie kontrolliert und kalkuliert?

2.2. Zweitens: Wir können und müssen an die neuen Medien die alten Fragen zur Sozialökonomie und -demografie der Verteilung der Mediennutzung stellen, beginnend mit der Frage nach Teilhabe, also nach Exklusion und Inklusion. Ausgeschlossen ist, wer nicht zu den gegenwärtig weltweit knapp 150 Millionen an das Netz Angeschlossenen gehört, in der Mehrheit Nordamerikaner. Es ist nun aber - anders, als uns Netz- und Technikoptimisten vormachen - keine Frage bloß der Zeit und der Technik bis die Menschenwelt vollends an dieses Medium angeschlossen ist, wie Radio, Telephon oder Fernsehen zeigen. Schliesslich gibt es sehr alte Medien, wie das Telephon, das von der Hälfte der Menschheit noch nie genutzt wurde. Es geht deshalb nicht nur um Anschluss, sondern um soziale Exklusion und Inklusion. Exklusion meint, dass Personengruppen sich im Zustand der Ungleichheit befinden, eine marginale Position und auch u.U. den Zustand der Isolation innehaben, der Medienzugänge erschwert oder blockiert. Dem tendenziell universellen Angebot Internet entspricht keineswegs eine tendenziell universelle reale Teilhabemöglichkeit. "Neun Länder in Skandinavien und Nord Amerika besitzen gemeinsam nur 6 % der Weltbevölkerung, aber 73 % der Webseiten und 79 % der Internethosts." Betrachtet man die Sozialdemografie und -ökonomie der NutzerInnen des neuen Mediums, dann zeigen sich relativ robuste Muster ungleicher Verteilung, was das Geschlecht, das Einkommen, das Vermögen, die Qualifikation, das Alter, den Sozialstatus oder die lokale Position angeht. Auch hier brauchen wir Antworten auf Fragen, die nicht oder kaum gestellt werden: wie hoch ist die Nutzung elektronischer Informations- und Kommunikationsmedien unter Un- und Angelernten? Unter Erwerbslosen? Unter Ausländern und Ausländerinnen? Unter Armen? Unter solchen, die kein Englisch sprechen? Unter den arbeitslosen, armen, alten AusländerInnen auf dem Land? Welche kulturellen Voraussetzungen erschweren oder begünstigen die Nutzung dieser Medien? Es gibt noch keine Skizze der im Stich gelassenen Geographien der deutschen Informationsgesellschaft.

2.3. Drittens: Wir können und müssen an das Internet die alte Frage nach den Inhalten, dem "Content" und seiner Kontrolle stellen, also die Angebote untersuchen und kritisch bewerten. Für die Millionen Internetnutzer sind Hunderttausende unterschiedlichster WWW-Angebote nur einen Mausklick weit entfernt, ein Informationsnirwana geradezu. Doch nur wenige klicken anders. Einer Handvoll kommerziellen Anbietern und ein paar Unternehmen der politischen Industrie ist es in kurzer Frist gelungen, eine Großteil der Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit auf sich zu lenken. Sieben Internetfirmen sind mittlerweile über 50 Millionen Amerikanern bekannt: America Online,Yahoo!, Netscape, Amazon.com, Priceline.com, Infoseek, Excite. AOL ist vier von fünf AmerikanerInnen ein Begriff. Einer Reihe von Unternehmen wie Yahoo, Netscape, AOL, Excite, Disney-Infoseek und Lycos ist es gelungen, bis zu einem Drittel und mehr ihrer NutzerInnen vergleichsweise dauerhaft an sich zu binden. Nur einige wenige Websites ziehen einen Großteil des Netzverkehrs - der Zugriffe - auf sich, angeführt von AOL-Netscape, Yahoo-Geocities und Microsoft. Sie sind zu den Zentralorten der faulen Internetnutzer geworden: "alles, was es gibt, soll man an einem Ort finden" (Rötzer) - es geht also gerade nicht um Portale und Gateways, durch die man bekanntlich hindurch geht. Auch ein Blick auf die bundesdeutschen Online-Nutzungsdaten, die der IVW im Oktober 1998 gemeldet wurden, zeigt eine starke Konzentration auf wenige Anbieter (AOL, Focus, ProSieben, praline, SAT1, Spiegel, Stern, TV Spielfilm, BILD, Handelsblatt, Rhein-Zeitung, ZDNet, DINO, Fireball und fünf Vermarktungsgemeinschaften). Zwar ist eine umfassende Rekonstruktion der Linkstruktur, die ganz wesentlich Sichtbarkeit und Aufmerksamkeitsverteilung im Informationsraum vermittelt, gegenwärtig nicht möglich. Auf nur einige wenige Sites wie Yahoo, Microsoft oder Netscape wird jedoch millionenfach verwiesen. Im politischen Bereich zeigt sich ein ähnliches Bild: Während die Zugriffsziffern mittlerweile gleichsam als virtuelle Einschaltquoten fungieren, ist die Rekonstruktion der Verteilung der Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit auf die politischen Orte im Informationsraum durch Analyse der Linkstruktur noch wenig üblich. Dabei wird so nicht der passive User erfasst, sondern die Gruppe jener, die aktiv an der Gestaltung des Mediums mitwirken, Angebote plazieren und entscheiden, worauf sie den Nutzer aufmerksam machen wollen. Sie gestalten als durch eigenes Wahlhandeln das Feld des politischen Informationsraums mit. Eine Zusammenstellung der Anzahl der Verweise auf gut 40 von insgesamt über 600 bundesdeutsche politische Sites, die in eine Link-Recherche mittels der Suchmaschinen AltaVista und Infoseek (3. Juni 1998) einbezogenen wurden zeigt, dass rund ein Dutzend politischer Sites sich zentral positioniert hat und der Deutsche Bundestag im Verweisfeld Politik mittlerweile die erste Stelle einnimmt. In dieser Spitzengruppe der 43 Websites, die im politischen Verweisraum eine hohe Aufmerksamkeitschance haben, sind 41 (!) Netzangebote etablierter größerer Institutionen, Organisationen, Verbände und Parteien. Auf der anderen Seite gibt es Hunderte kleinerer politischer Sites, die aus dem politischen Verweisfeld herausfallen und kaum eine faktische Chance haben, gefunden, gesehen und zur Kenntnis genommen zu werden. Damit hat sich eine deutliche Veränderung gegenüber 1996 ergeben, als eine ähnliche Recherche noch eine signifikant größere Rolle und Sichtbarkeit kleinerer Projekte ergab - soviel zum Thema der Egalité im Netz. Es gibt also eine Angebotsmacht in Sachen politischer Information und Dokumentation auf dem Internet, mit der eine kritische Auseinandersetzung erfolgen muss. Man schaue sich nur einmal an, wie stark die politische Begrifflichkeit und Klassifizierung (die oft direkt aus der US-Politikwelt importiert ist) in den unterschiedlichen grossen Verzeichnissen - Yahoo, Dino, Web.de usw. - differieren. Hier werden politische Weltsichten geliefert, ohne dass es die Nutzer bemerken. Dabei wird man weiter berücksichtigen müssen, dass auf der Nachfrage- oder Nutzungsseite explizite Politik im Gesamspektrum der Netzkommunikation keine herausragende Rolle spielt. In den Ranglisten verbreiteter Spezialverzeichnisse, die Häufigkeiten der Zugriffe auf Netzangebote dokumentieren, kommen politische Angebote nicht vor. Politik wird (bestenfalls) mitgelesen bei der Nutzung der allgemeinen Netzangebote etablierter Medien (CNN, Time, FOCUS, Stern, SPIEGEL, Welt usw.), nur die zentralstaatlichen politischen Netzangebote (Bundestag / Bundesregierung oder Weisses Haus / US-House) haben mittlerweile wenigstens ansatzweise vergleichbare Nutzungsziffern. Die Angebote anderer staatlicher Stellen und politischer Organisationen werden demgegenüber weitaus weniger wahrgenommen. Nur einige Hundert der weit über 100 000 Mailinglisten und Newsgroups befassen sich explizit mit "Politik" und dass die Zahl politischer Web-Angebote in der Bundesrepublik dank der Ausweitung der Webpräsenz staatlicher Stellen mittlerweile einigermaßen vierstellig geworden ist, ändert nichts daran, dass der Anteil politischer Sites in der Bundesrepublik bei gut einem halben Prozent liegen dürfte.

2.4. Viertens: Und endlich können und sollten wir auch die alten Fragen zur Nutzungspraxis und Medienwirkung an das neue Medium stellen. Auch hier zeigt sich, wie wenig die Medien- und Kommunikations- bzw. die Politikwissenschaft bislang zur Aufklärung zentraler Fragen beigetragen hat. Zwar gibt es Dutzende und Aberdutzende "Forschungsergebnisse" zur Beachtung und Nutzung von Werbeangeboten, zu Onlineshopping oder Downloadmustern. Wer freilich der einfachen Frage nachgeht, wer (oder wieviele) von den Millionen Usern das Internet für politische Interessen, Fragen, Informationen, Kommunikation nutzt - und warum? - wird sich mit kaum einem halben Dutzend unzureichender und völlig unbefriedigender zumeist pauschaler Kleinstudien zufrieden geben müssen. Gegenwärtig lässt sich die Grundfrage nicht beantworten, ob durch das Netz politische Mobilisierung und Beteiligung ausgeweitet wird oder ob es die vorhandene Lücke zwischen politischen Aktiven und Interessierten bzw. Desinteressierten noch weiter vertieft – Netzpolitik also den Status Quo der Verteilung politischen Engagements nur verstärkt, statt ihn zu verändern. Die US-Entwicklung spricht eher für die Vertiefungshypothese - woraus zumindest die Annahme resultiert, dass die Ausweitung oder Mobilisierung hierzulande noch lange auf sich warten lassen wird. Das bedeutet für ein netzpolitisches Konzept, dass die Frage des Zugangs weiterhin die erstrangige politische Frage ist. Studien zum Onlineverhalten in der Welt politischer Netzangebote schließlich existieren praktisch nicht. Und überhaupt nichts endlich wissen wir darüber, wie sich die Nutzung dieses Mediums auf das Verhalten der Nutzer auswirkt - Stichwort Wirkungsforschung also. Wie verändert sich die Nutzung anderer politischer Medien? Verändern sich politische Einstellungen? Wird das politische Wissen umgebaut? Gibt es eine Typologie der Nutzer politischer Medien?

Die relativ geringe Bedeutung der Politik für die Netznutzung hat damit zu tun, dass ihre Alltagstauglichkeit bisher hinter jeder Onlineverkaufsstelle und jedem Reisebüro zurückbleibt. Ihre praktische Wirkungsmächtigkeit ist noch zu gering - vielleicht am besten noch in kommunalen Angeboten und in bewegungsorientierten oder hochspezialiserten special-interest Angeboten - z.B. Greenpeace oder Amnesty International - entwickelt. Nach allem, was wir wissen, hat sich das Nutzungsinteresse mit dem kontinuierlichen Wachstums des Anteils erfahrener User differenziert. Rasch wächst der Anteil jener, die nicht surfen, sondern ein gezieltes, professionelles Interesse an den Tag legen, präzise Antworten auf exakte Fragen und schnelleste aktuelle Information verlangen. Ich habe z.B. letzten Samstag über eine Stunde auf dem Netz vergeblich nach gehaltvollen und umfassenden Informationen in Sachen 630-DM-Jobs und Gesetz gesucht. Vergeblich. Es gab Presseeklärungen. Alles wird kommen, aber mit mittlerweile inakzeptablem Verzug. Hier liegen auch Versäumnisse und Angebote der Einrichtungen politischer Bildung, die bislang kaum erkennen lassen, dass sie sich um die Gewinnung bislang benachteiligter Gruppen bemühen und sich auch als politische Netzdienstleister verstehen müssen, die freie und zugängliche Mehrwertdienste bieten, die anders nicht erhältlich sind. Da mangelt es also nicht nur an Professionalität, wie unschwer am Beispiel des Netzangebots der Bundeszentrale für politische Bildung gezeigt werden könnte, sondern auch an einem entschiedenen Engagement der öffentlichen Hand für Modellversuche, für die berühmten public-private-Partnerships, an handfester Investition. So sorry: um friedenserhaltende Maßnahmen im Kosovo durchführen zu können, brauchen wir keinen Eurofighter - das Kostenäquivalent von fünf Exemplarten würde ausreichen, um Aberdutzende politisch mobilisierender und lehrreicher Anschub- und Modellversuche zu realisieren. Das wäre doch eine feine Pressekonferenz für Rudolf Scharping.

Es geht also zunächst und in erster Linie darum, klassische Fragen an die neuen Medien zu stellen, sie selbst und ihre gesellschaftliche Praxis zum Gegenstand der Reflektion zu machen, um auf diese Weise politisch gebildete Medienkompetenz und medial gebildete politische Kompetenz zu erreichen.

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Die zweite Chance politischer Bildung ist, dass sie bekannte Fragen mit neuem Akzent und veränderter Problemsicht stellen kann und muss. Nur ein Beispiel hierfür. Die bunte Welt der Zeitschriftenkioske oder die unendlichen Ketten der bewegten Fernsehbilder verweisen uns auf die Schlüsselrolle der Ästhetik medialer Produkte. Wer Erfahrung mit dem Internet hat, der weiss, wie überraschend wirksam hier ästhetische Formate sind. Die Wahl der Tageszeitung hängt nur geringfügig von Design der Seiten, den Schriftformaten oder der Qualität beigegebener Grafiken oder Bilder ab. Dagegen spielen ästhetische Präferenzen bei der Nutzung von Netzangeboten offenbar eine ganz beträchtliche Rolle. Die Präsentation von Texten oder "Inhalten" in einem originellen, innovativen grafischen Format ist offenbar ein wesentlicher Maßstab für ihre Akzeptanz und die Bildung einer nachhaltigen Motivation für eine dauerhafte Teilhabe an Netzkommunikationen. Schon aus dieser Tatsache, natürlich aber auch aus der grundlegenden neuen, eben multimedialen Eigenschaft des Mediums Internet, die ununterbrochen ausgebaut und vertieft wird, ergibt sich die Aufgabe, Kompetenz zum Umgehen mit text-, bild- und audiobasierten Formaten zu entwickeln. Was bislang an öffentlichem politischen Wissen auf verschiedene Medien verteilt war, ist nun - zu noch kleinerem Teil - auf einem Medium multimedial konzentriert und ermöglicht so eine qualitativ verbesserte Nutzungspraxis. Multimedialität wird fast uneingeschränkt - auch gerade unter der Perspektive der politischen Bildung - als Positivfaktor für die Entwicklung einer politischen Kultur der Partizipation angesehen und das ist richtig. Doch die Problematik dieser Veränderung wird zuwenig gesehen. Noch ist das Netz textbasiert. Sobald es technisch möglich sein wird, wird es video- und bildbasiert sein. Am Anfang war das Wort, am Ende sind, so die Cassandramutmaßung, vielleicht nur noch Bilder, Symbole, Slogans, Warenzeichen, welche die Ideen und Wörter in der Politik ersetzen. Die einfache Frage ist: Welche Wirkung wird der Übergang vom Wort zum Bild auf die Demokratie haben - die auf Texten basiert? Das Vordringen des Internets in das Feld politischer Massenkommunikation macht es mit neuer Dringlichkeit erforderlich, die Fähigkeit zur Bildkommunikation und -kritik, auch Bildgebrauchskritik, auszubilden. Denn hier wird uns Politik mit einer bestimmten ästhetischen Ausstattung vorgeführt, gibt es politische Bilder, visuelle Idole, standardisierte und kanonisierte politische Bilder, globale politische Zeichen von hoher Wirksamkeit. Die Macher der politischen Netzkommunikation denken ununterbrochen über die Ästhetik ihres Produkts nach, experimentieren mit großem Einsatz und erneuern im Tagestakt ästhetische Formate, um Aufmerksamkeit, Akzeptanz und politische Effekte zu erzielen. Wo ist auf Seiten der Nutzer die ästhetische Kompetenz? Politische Bildung muss die Fähigkeit entwickeln, sich in einem ästhetisch dicht gestalteten Raum politischer Netzkommunikation zu bewegen.

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Die dritte Chance einer politischen Bildung im Zeichen der elektronischen Informations- und Kommunikationsmedien ergibt sich aus den qualitativ neuen Möglichkeiten, die uns das Medium Internet gibt. Drei dieser neuen Möglichkeiten, die die ganze Sache so spannend machen, möchte ich abschliessend skizzieren.

4.1. Am wichtigsten, so denke ich, ist ein sehr einfacher Punkt: keineswegs die Menge oder die Qualität von Informationen über das politische System und seine Akteure, aber ihre Zugänglichkeit hat sich durch das Internet nachhaltig verbessert. Für den einzelnen User hat sich insofern natürlich die Menge und Qualität der Informationen dramatisch erhöht. Entgegen weitverbreiteten Behauptungen hat das Internet jedoch objektiv keineswegs zu einer Veränderung des Verhältnisses von Geheimhaltung und Veröffentlichung geführt. Ebenso, wie bislang über anderen Medien kommunizierte öffentliche Information nun über das Netz in zugänglicherer Weise verteilt wird, wird geheime, in der Regel entscheidungsvorbereitende und -nahe politische Information nun ebenso unzugänglich wie bisher über das Netz kommunziert; eine systematische Ermittlung des Aufwandes für die Etablierung und Effizienzssteigerung der geheimen politischen Kommunikation im Bereich der Exekutive und Behörden ist überfällig; der Aufwand hierfür, so lässt sich vermuten, dürfte den Ressourcenaufwand für die Etablierung eines Kanals für öffentliche politische Kommunikation weit übertreffen. Materiell gibt es keine neue Transparenz der Politik. Was zuvor geheim war, ist geheim geblieben. Was öffentlich war, ist zu einem kleinen Teil nun in digitaler Form weitaus leichter zugänglich als zuvor. Der augenblickliche Trend, zur Privatisierung öffentlicher Information wird die neu gewonnene Zugänglichkeit allerdings wieder einschränken. Die neue Zugänglichkeit meint viererlei:

  1. Sie haben vergleichsweise aufwendungslos Zugang zu Mainstreaminformationen und -positionen
  2. Sie können abweichende Informationen, die nicht zum grossen Mainstream gehören, vergleichsweise problemlos ausfindig machen
  3. Sie können häufig die in den alten Medien massiv herrschenden Filter der Herausgeber, Redakteure usw. umgehen, kommen also relativ umstandslos an die Quellen, also an Rohdaten heran, die ihnen ansonsten nur in gefilterter Form zugänglich sind. Das Netz fordert von uns sehr nachhaltig, das Umgehen mit Rohdaten, ihre Einordnung, Einschätzung und Bewertung zu lernen.
  4. Sie können schließlich in unerhörter Weise die Eigenschaft des Internets zu globaler wie lokaler Aktualität nutzen. Ob diese Eigenschaft freilich politische Nachdenklichkeit fördert, bezweifle ich - kann man denken, wenn man es eilig hat? Was wird aus der politischen Zeit?

4.2. Neben der neuen Qualität von Zugänglichkeit ist eine zweite Möglichkeit, die das Internet anderen Medien ganz evident voraushat, seine geradezu atemberaubende Informationstiefe. Die praktisch unendliche Speicherkapazität dieser Technik ermöglicht eine ungeheure Informations- und Kommunikationsvielfalt und eine anderen Medien prinzipiell nicht gegebene "Vorratshaltung", Archivierung, die Ausbildung eines Gedächtnisses. Medienkompetenz, hier also die Fähigkeit, in einem dichten, ungeheuer dispersen und faktisch unbegrenzten Informationsraum zu navigieren, sich zu orientieren und Sinnverknüpfungen herzustellen, wird hier fundamental wichtig - und eine solche Gestaltung dieses Raums, dass er nutzbar wird. Die Gestaltung des Informationsraums Internet vollzieht sich gegenwärtig freilich nicht nach Maßgaben der Beförderung von Erkenntnis, Beurteilungs- oder Handlungsfähigkeit, sondern ganz simpel und überwältigend nach Maßgabe erwerbswirtschaftlicher, zunehmend auch nur noch einzelwirtschaftlich ansetzender Kriterien. Nur ein Beispiel: die zwei zentralen Orientierungsmedien im Dickicht der 400 Millionen Webseiten, nämlich Verzeichnisse und Suchmaschinen, sind nahezu allesamt aufs schärfste um Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit konkurrierende Businessprojekte, die gewerblich mit Orientierungswissen handeln, das sich in Raum des Profit- und Konsumwissens bewegt. Immerhin: noch hält eine respektable Menge von non-profit und öffentlichen Anbietern dagegen. Doch das ändert nichts an dem überwältigenden Grundtatbestand, dass das heutige Individuum Wahrnehmungs- und Erkenntnisapparate entwickeln muss, um die neuen selbstgeschaffenen Cyber- und Hyper- und Speicherräume entdecken, kartieren, topologisieren und begreifen zu können.

4.3. Eine dritte Möglichkeit, die das Internet den anderen Medien voraus hat, ist - vor allem interaktive - Deliberation. Mittlerweile dürfte allerdings die Phase des naiven Lobs der Interaktivität vorbei sein. Sicherlich: das Internet ermöglicht, dass many-to-many und many-to-one kommunizieren und dass Konsument und Produzent die Seiten wechseln. Doch zur Interaktivität gehören mindestens zwei Akteure und es gibt sie nicht ohne Macht. Das Netz ermöglicht zum Teil schon heute, erst Recht in Zukunft, hochselektives Kundentracking. Wer die Wähler sind, welche Präferenzen sie haben, wo die Konsumenten sind, wie sie zur Wahl motiviert werden wird zunehmend via Web ermittelt. Der Politiker W. kann z.B. die Suchmaschinen kontaktieren und Informationen über Bürger kaufen, die in einem bestimmten Bezirk wohnen. Seitdem massenweise freie E-Mailadressen angeboten werden im Tausch gegen die Realadresse, ist dies sehr leicht. Zusätzlich können Informationen darüber gekauft werden, welche Aktivitäten diese Adressaten in jüngster Zeit im Usenet oder auf Suchmaschinen unternommen haben - wer z.B. nach politischen Konkurrenten oder bestimmten issues oder websites gesucht hat. Zum Beispiel können jene identifiziert werden, die ihr ökologisches Interesse durch das Eingeben von "Atom" oder "Trittin" gezeigt haben. Ähnlich ertragreich ist die Nutzung der Daten, die durch das Registrieren sich ergeben, z.B. bei lokalen Zeitungsanbietern: das Tracking der Lektüre von Subskribenten ist problemlos zu erwerben. Wer registriert ist, gibt sein Privatleben via E-Mail ab. Bei Amazon lassen sich die Lektüren einschlägiger Zielgruppen ebenso verfolgen. Auch die großen politischen Sites der Bundesrepublik bieten förmliche Interaktivitätssets an, E-Mail-Feedback, Gästebücher, Dokumentendownload, Serviceleisten, Linkkataloge, Mailinglisten, Chat-Rooms, Online-Konferenzen, interaktive Spiele ohne Ende. Interaktivität ist mittlerweile netzpolitisch korrekter Standard, mit dessen Hilfe jetzt und erst recht in Zukunft so hintergründig die Politik ungewöhnlich exakt beobachtet, wie sie beobachtet wird (oder beobachtet, ob sie überhaupt beachtet wird). Der Punkt, den ich hier machen will: weil jede Kommunikation, auch die technisch vermittelte elektronische Kommunikation, soziale Beziehungen zwischen ihren TeilnehmerInnen herstellt und aktualisiert, gibt es in jeder Kommunikation die Machtfrage. Kommunikation, auch Netzkommunikation, wird dann politisch, wenn sich der Austausch auf die Regelung der öffentlichen, allen gemeinsamen Angelegenheiten bezieht, es um die Reproduktion von Macht und unterstellbare Zustimmung geht (Knobloch). Communicare aber heisst zunächst: "gemeinsam machen", "teilen", "mit-teilen". So geht es auch um die Verdichtung horizontaler politischer Kommunikation, die uns das politische Netz ermöglicht. Die Technologie des Netzes weitet objektiv den politischen Handlungs- und Reflektionsraum des Individuums und der Have-Nots aus. Damit ermöglicht das politische Netz jenen eine Verteil- und Kommunikationschance, die kaum Ressourcen haben, weshalb die Forderung nach Ausweitung des Zugangs zu öffentlichen Netzen und Aufschliessung des in öffentlichen Einrichtungen (Bibliotheken, Hochschulen, Verwaltungen, Schulen, Organisationen usw.) vorhandenen Wissens für dieses Medium sinnvoll ist. Diese Technologie macht es auch möglich, dass in ein solches Gefüge auf neue Weise die Kontrollformen der Selbstverwaltung und Self-Governance eingebaut werden können. Politisch formuliert, geht es um drei Schlüsselkonzepte:

  1. unbeschränkter und allgemeiner und weitgehend unentgeltlicher (!) Zugang,
  2. Public Service - hier ist die politische Bildung und ihre Nutzung öffentlicher und gesellschaftlicher Informationen gefragt - und
  3. Selbstverwaltung (Self-Governance - hier geht es um die "Interaktion" und, nüchterner formuliert, um den Aufbau eines institutionellen Kontrollgefüges, das um die alten Massenmedien entstanden ist, im Falle der neuen Medien jedoch fast völlig fehlt: von der fehlenden Konzentrationskontrolle über Regelungen der inneren Machtstruktur ("innere Pressefreiheit") und der wechselseitigen Selbstkritik der Medien bis zu justitiablen und normativen Festlegungen, wie sie etwa öffentlich-rechtliche Anstalten als Aufgabenstellung der Einrichtungen formulieren (Naturschutz, Gleichheit, internationale Verständigung usw.).

Bildungspolitisch formuliert, geht es um den Weg von der Technik- über die Kultur- zur Entscheidungskompetenz. Mehr kann man eigentlich nicht verlangen.

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