Rainer Rilling

Das unpolitische Netz

oder:

Wer Links hat, dem wird Recht gegeben.

1 Das Thema "Politik im Netz" reizt zur Klage. Ginge es um Telebusiness oder Medizin Online, könnte ich nun leichthändig mit exquisiten Surftips über Steueroasen im Kommerznet oder mit zahllosen Netzadressen für die Lebenshilfe ("Zahnärzte im Internet") dienen. Doch Politik? Elektronische Demokratie? Selbstherrschaft? Identität der Entscheidungsbeteiligten und Entscheidungsbetroffenen? Über die Auswirkungen des Netzes auf das politische System und die Rolle expliziter Politik auf und mit Netzen gibt es zwar verbreitet Annahmen und Meinungen, aber nur marginale Diskussionstraditionen auf dem Netz selbst und fast keine wissenschaftliche Analyse.

Zum letztgenannten Punkt:

  • das Netz ist bislang kein Gegenstand der politischen Wissenschaft und politischen Soziologie. 1996 hat sich nur eine kleine Arbeitsgruppe der APSA-Tagung mit dem Internet befasst, ein Artikel zum Thema in einer zentralen politikwissenschaftlichen Zeitschrift steht noch aus, der Dresdner Soziologentag bringt es wenigstens zu einem das Zoon Politkon Netz thematisierendes Hauptreferat und einer erstmaligen Arbeitsgruppe zum Internet, die Politik ignoriert
  • Monografien fehlen. Es gibt -lt. Münsteraner-internetbücherliste - Bücher zu Medizin und Gesundheit, Sport, Touristik Multimedia, Musik, Jura, Business Ressourcen, Banking und Shopping, Ökologie, Geisteswissenschaften - aber, sieht man von Burhard Schröder`s: Neonazis und Computernetze ab - keinen einzigen Band z.B. mit dem Titel "Politik online" oder "Politik auf den Netzen". Weshalb er eben geschrieben wird.
  • die bislang vorliegenden wissenschaftlichen Analysen (vor allem: Umfragen) ignorieren die Thematik fast ausnahmslos

Zu Diskussionstraditionen

  • Sicherlich ist dem Netz eine politische Dimension implizit und gibt es vielfältige politische oder politisch relevante Diskussionen auf dem Netz. Doch:
  • an der tagtäglichen Zunahme der Netz- und Webs-Sites partizipieren die politischen gegenüber den kommerziellen und privatistischen Unternehmen nur weit unterdurchschnittlich
  • nach WWW.Liszt.com gibt es momentan ca. 70 000 Mailing-Listen und etwa 16 000 Newsgroups. Auf das Stichwort "politics" gibt es etwas mehr als 200 Nennungen, von denen etwa ein Drittel auf den akademischen Bereich entfallen - kein beeindruckendes Indiz für eine sonderliche Ausprägung der spezifischen Eigenschaft des Mediums Netz, interaktives Tool der Individual- und Massenkommunikation zugleich zu sein, für das nicht das World Wide Web, sondern die Mailing-Listen, Newsgroups und Chat-Rooms stehen.
  • und ganz eng das Thema "elektronische Demokratie" oder "Teledemocracy" aufgerufen: da ist neben einigen Sites nur ein bemerkenswerter WWW-Site (TAN-Becker) und eine Diskussionsliste (ipso) zu vermerken
  • schließlich ist die vergleichsweise politische Mailboxszene gegenüber dem Gesamtunternehmen Internet seit 1994 massiv entwertet worden: nur noch 3-4 % der NetznutzerInnen hängen an Mailboxen, das /CL wird 1996 von gerade mal rund 100 000 Menschen benutzt (über ca. 300 regionale Einwählknoten).

Meine erste Vermutung nach diesem ersten Blick ist also, dass Telekommunikation und Netzmedien zwar zum erstrangigen, machtverheißenden Politikfeld avanciert sind (dessen Inhalt paradoxerweise die erklärungsbedürftige Selbstentmachtung der Politik ist), das elektronische Medium Netz selbst stellt jedoch ganz im Gegensatz dazu für politische Praxis keine sonderlich relevante Bewegungsform dar noch ist es Gegenstand wissenschaftlicher oder populärer Reflektion. Es ist also grosso modo durchaus ein nachhaltig unpolitischer Charakter der Netze evident. Die Entgrenzung des militärischen [also politischen] Netzraums seit den späten 80ern vollzieht sich als Entpolitisierung. Ein Grund für dieses Paradoxon: es geht nicht um jenes (womöglich gar demokratie-) politische Empowering des Volkes und seiner potentiellen NetzbürgerInnen, von der die enthusiastischen Netzaktivisten träumen und die Werbeagentur der Telekom 1 & 1 immer wieder so hingerissen formuliert. Die Relevanz des Politikfeldes hat - gegenwärtig - fast ausschließlich mit Standort, Markt und Profit zu tun - offenbare Marginalität, kaum vorstellbare Unterfinanzierung und evidenter Dilettantismus der politischen Netzprojekte, die ohnehin in aller Regel auf Rationalisierungsarrangements ("schlanker Staat") aus sind, lassen kaum keinen anderen Schluß zu. Dazu gehört, dass die neoliberale Analogisierung von Politik und Markt angesichts des Zustandes ökonomischer Marktdominanz als adäquates politisches Agieren auf dem Netz bloß kalkulierenden Interessenverfolg der Konsumenten von Politik annimmt - nicht mehr.
Auch für das Netz gilt: wenn das Politisch das Ökonomische nicht führt, frißt das Ökonomische das Politische auf.

2 Auch ein tieferer Blick auf den neuen Informationsraum ändert an dieser ersten Diagnose vom unpolitischen Charakter des Netzes nichts. Dafür lässt sich manches ins Feld führen, nicht bloß die Explosion der kommerz- und .com - Domänen [die mittlerweile mehr als die Hälfte der Netzanbieter ausmachen] und der privatistische Homepage-Tsunami mit Kopfbild, Hotlist (Spiegel, Focus, Microsoft) und Verweis auf die letzten Urlaubsvergnügungen nach dem Motto "Alle schreiben - keiner liest. Online allein." Gary Chapman von der CPSR schrieb in der Los Angeles Times vom 16.9.1996: bis jetzt zumindest sei das Internet noch kein Zoon Politikon, das Web ist kein political animal. Das Netz ist ruhig zwei Monate vor der nationalen Wahl, von den üblichen Verdächtigen - Netscape, Microsoft, Playboy - einmal abgesehen. Der Communications Decency Act und die Telekommunications Bill spielen keine Rolle. Keine Rede davon, dass das Netz das TV als politische Bühne ersetze: zwischen 85 und 88 % der US-Bevölkerung sind offline - ein TV-Werbespot bei NBC erreicht eine Zuschauermenge, die der weltweiten virtuellen Gemeinde entspricht. Wie manche wissen, habe ich in Marburg ein Site aufgebaut unter dem Titel "Wissenschaft plus Politik", der u.a. einen kritischen Katalog politischer Web-Sites in der BRD und auf der Welt mit mittlerweile ca. 1050 Adressen enthält und der zusammen mit dem anders gelagerten Verzeichnis der Friedrich-Ebert-Stiftung das größte einschlägige Verzeichnis hierzulande ist. Ich nehme an, dass wir gegenwärtig rund 3-500 bundesdeutsche politische Web-Angebote auf dem Netz haben, hinzukommt eine nicht sonderlich dreistellige Anzahl von Mailing-Listen und Newsgroups. Darunter immmerhin etwa 160 gewerkschaftliche und linke WWW-Angebote, Listen und Newsgroups. Demgegenüber wäre zu erinnern, dass es hierzulande im Herbst 1996 allein über 400 000 Hosts gibt. Die quantitative Rolle der politischen Angebote auf dem Netz ist äußerst bescheiden. Über Nutzung - Zugriffe - läßt sich wenig sagen. Die bundesdeutschen politischen WWW-Sites haben vorsichtshalber bisher - in aller Regel - auf die üblichen Netzzählwerke verzichtet. Zu hören ist, dass Greenpeace Deutschland täglich 5000 Kontakte vermeldet - was etwa 400 Personen entspräche. Der FDP war das Einklicken von täglich so gerade Mal 50 Leuten in ihre Homepage eine Pressemitteilung wert.1 Ein vergleichsweise politischer akademischer Site wie der meine zählt im Moment zwischen 30 und 150 Zugriffe am Tag. Würde der Site heißen "PolitikplusSex-XXX.com" wäre das die Zugriffshäufigkeit pro Sekunde.
Natürlich gab und gibt es politische Bewegung auf dem Netz. Das Cybercampaigning, über das diese Woche auf einer Konferenz am Brookings-Institut in Washington beraten wird, ist keine Erfolgsgeschichte: weder die Verabschiedung der genannten Gesetze noch die Durchführung des französischen Nukleartestprogramms wurden durch Netzkampagnen irgendwie merkbar tangiert. Ohnehin gilt offenbar im Netz die Losung: "Bleib mir vom Leib und laß mich tun, was ich will." Bei den wenigen erfolgreichen Unternehmen - bei LOTUS oder in der Sache Clipper-Chip - ging es um die private Libertät, woran uns auch Microsofts Einführungswerbung für den Internet Explorer 3.0 erinnert - "Remember the freedom you felt the first time you got on the Internet?"" Interessanterweise", schreibt Stoll, "galt keine der Initiativen einer Frage von übergeordnetem öffentlichen Interesse. Technologen äußern sich offenbar nur zu ihren ureigensten Angelegenheiten. Das alles in den Schatten stellende Interesse der Netznutzer ist das Medium selbst." Die Netzideologie dieser Kulturen, für die Zeitschriften wie Wired stehen, hat die von mir überhaupt nicht geschätzte rechte Monatszeitschrift "Monat" im Juni 1996 so beschrieben: "Wired oder Mondo 2000 verkaufen einer Leserschaft aus Hackern, Netzsurfern und Angestellten der IuK-Industrie eine Neuauflage des Manchester-Kapitalismus samt Nachtwächterstaat als Einlösung des Versprechens freier und gleicher Partiziption der Individuen an einer demokratischen Öffentlichkeit. 2 Die politische Hauptrolle der verdienstvollen, wenngleich oftmals elitären Electronic-Frontier-Organisationen wie der EFF oder CPSR freilich läuft aus. Drei Kategorien politischen Akteure werden sich zukünftig auf dem Netz finden:

  1. mit Abstand an erster Stelle große Content-Provider, die Politik als mitlaufendes aktuelles Infotainment verkaufen - Politics for fun: Frohsinnsprovider mit sozialverträgliche Bilder und Audiorauschen
  2. Aktivbürger und (in der Regel in real life stark situierte) politische Unternehmer, die imstande sind, große zentralisierte Netzwerke mit schwachen Bindungen zu organisieren, und mit weitem Abstand
  3. marginalisierte politische Akteure, die sich die Kosten- und Verbreitungsvorteile des Netzes nischenpolitisch zunutze machen können.

Der begründete Augenschein vom unpolitischen Cyberspace ist erklärungsbedürftig. Der politische Informationsraum, in dem sich diese politischen Akteure jetzt und zukünftig bewegen werden, hat eine äußerst wesentliche Eigenschaft, die - so vermute ich - strukturelle Entpolitisierung immer wieder hervorbringt. Der Informationszugang oder die gesellschaftliche Informationsverteilung ist also m.E. hier nicht das Problem: die Ungleichheit politischer Machtverteilung ist nicht das Ergebnis ungleicher Informationsverteilung, wie Bibliothekare und Intellektuelle gerne glauben. Wer herrscht, tut dies nicht, weil er mehr weiss. Die Konzentration der Diskussion auf zuwenig oder zuviel oder falsch verteilte Informationen geht am politischen Kern vorbei: es geht darum, wie welche Informationen entstehen, wozu sie genutzt werden, welche Bedeutung sie für die Bildung eigener Interessen haben, ob sie relevant sind für Entscheidungen. Politik meint [äußerst orthodox formuliert] Entscheidungen über Machtverteilung zwischen großen gesellschaftlichen Gruppen oder Klassen. Sie setzt voraus, dass im Raum Machtressourcen knapp sind. Funktioniert Politik noch so im Cyberspace, der endless frontier, in einem Informationsraum, der praktisch keine Grenze hat?

  • Nicht nur, dass "das Netz" nicht "entscheidet".
  • Nicht nur, dass die Idee eines demokratischen Weltstaates auf dem Netz ebenso lächerlich ist wie die von den wirklichen gesellschaftlichen Interessengegensätzen absehenden menschheitsharmonisierenden Weltbürgerideen der Vergangenheit und daher die zumeist us-amerikanischen "Teledemocracy"-Hobbyprojekte vielleicht gerade mal noch als anrührend-aufmunternde Don Quittocherien durchgehen können, die darüber nachdenken, ob elektronische Agents und Spider wählen dürfen. .
  • Und nicht nur, dass die Repräsentation von Gruppen und Klassen im virtuellen Raum problematisch ist.
  • Nicht, dass es im Netz kein Zentrum mit "zentralem Mandat" gibt, aus dem gleichsam die "Ordnungen der Politik" hervorkommen, weshalb im zentrumslosen Netz der "Ort der Politik verloren" gehe, wie der Freiburger Ordinarius Ludger Kühnhardt in einem FOCUS-Kommentar zum Thema "Wieviel Bytes verträgt die Demokratie?" behauptete. 3 So kann nur der argumentieren, für den der politische Raum mit einem privilegierten Zentrum ausgestattet sein muß, um überhaupt als politischer Raum ausgezeichnet zu sein und für den die Dezentralitätsvorgabe aus einer Welt technisch gleichberechtigter Datenknoten ein Kontrollrisiko aufwirft.
  • Sondern: Das Internet ist ein Medium der Kommunikation, kein Instrument der Entscheidung.

"The Internet may fairly be regarded as a never-ending worldwide conversation...the most participatory form of mass speech yet developed." (U.S. District Court for Eastern District of Pennsylvania, Civil Action No.96-1458, June 11,1996)] The Great Conversation: das ist Cyberspace, siehe das CDA-Urteil des Federal Court in Philadelphia, wo als Beschreibungen des Netzes gelten Zeitung, Bücherei, Postamt, Forum, Theater, Virtual Communties.

Abstimmungen bzw. Entscheidungen im virtuellen Raum sind grundsätzlich irrelevant, denn das Reden und Schreiben auf dem Netz "führt strukturell nicht zum Ziel der Übereinstimmung oder des Bruches, sondern zur beständigen Erweiterung von Varianten." 4

Ebenso wie die national-staatlich organisierte politische Öffentlichkeit mit der Entwertung des Nationalstaates ihre konstituierende Bezugsgröße verliert, so ist nicht das fehlende Zentrum, sondern der Fakt fehlender Grenzen das Problem des politischen Netzraums, über das nachzudenken ist. Dem Gültigkeitsbereich einer Entscheidung in einem gegebenen Informationsraum kann sich der Netizen eben entziehen, indem er schweigt, einen neuen Informationsraum nach seinem Gusto aufmacht oder den virtuellen Raum verlässt. Eine konkrete Beobachtung hierzu: politische Positionen und Meinungen finden sich zuhauf auf den politischen WWW-Sites, Konflikte nicht. Die Sites beziehen sich nicht aufeinander: CDU ignoriert SPD, PDS ignoriert die Grünen, die Grünen ignorieren die CSU. Natürlich finden sich Gegenbeispiele der direkten Thematisierung und des Austragens politischer Konflikte auf dem Netz. Nur: sie werden dort nicht gültig entschieden. Was auf den ersten Blick als ein Gegenbeispiel erscheint wie z.B. die jüngste Abstimmung über die Gründung einer offenbar rassistischen Newsgroup zu weißer Musik, die mit überwältigender Mehrheit abgelehnt wurde, ist nicht nur, nüchtern betrachtet, völlig peripher, sondern ein Beleg für die These: die Betreiber dieser Gruppe können einen eigenen Inforationsraum für ihr rassistisches Projekt aufmachen oder das Netz verlassen, was sie auch getan haben, und in real Life Rassisten bleiben. Es ist also sehr zweifelhaft, dass der Netzraum ein Platz für zwingend folgenreiche Entscheidungen ist, denen sich die Betroffenen nicht enziehen können: Exit ist möglich, das Netz hat - im Unterschied zum realen Staat - immer einen Ausgang. Wenn politische Entscheidungen über Machtverteilung zwischen gesellschaftlichen Gruppen die Essenz politischen Handelns ist, dann ist das Netz insofern strukturell unpolitisch, weil es kein derart essentieller Entscheidungsort sein kann.

3 Obwohl das Netz im Ergebnis politischer, nämlich militär- und technikpolitischer Entscheidungen entstanden ist, bildet es also insofern einen unpolitischen Raum, als es kein Ort für Entscheidungen über Machtverhältnisse ist. Ein Sachverhalt, der zu unterscheiden ist von der Virtualisierung von Wahl- und Entscheidungsprozessen, die als Entkörperlichung des politischen Prozesses kritisiert wird. Die Sinnlichkeit der Wahlkabine ist kein Argument gegen die abstrakte Gleichheit bürgerlicher Wahl. Im Netz nun aber findet durchaus Politik statt. Politische Anbieter, Mailing-Listen, Sites, Chats, Zensur, Allianzen Aktionen, Unterschriftenlisten, Petitionen, Voting und Flaming - alles ist zu finden und noch viel mehr. Doch das alles hat mit Kampf um Sichtbarkeit und die Ermöglichung von Aufmerksamkeit, mit Meinungs- und Willensbildung, also auch mit Entscheidungsvorbereitung oder -konfiguration zu tun, nicht mit Wahl, Entscheidungsfällung und wenig mit ihrer Implementierung.

Wem nun allerdings die erste, prinzipielle Vermutung, dass das Netz letztlich ein grundlegend unpolitischer Raum sei, die demokratische Laune verdorben hat, der sei mit einer Vermutung zweiten Grades konfrontiert (auf den natürlich die Vermutung Dritten Grades folgen wird und ein optimistisches Rotschwänzchen am Ende, zum Trost): betrachten wir die faktische Benutzerplattform des Netzes - nämlich das Internet-Interface WWW - dann gibt es mindestens drei Gründe für meine Vermutung zweiten Grades, nämlich die Annahme, dass Politik, soweit sie auf dem Netz stattfindet, eher die vorhandene realgesellschaftliche politische Struktur begünstigend reflektiert als sie subversiv untergräbt, wie uns die ja korrekte technologische Gleichheitsvermutung nahelegt. Insofern folge ich Coys These, dass das Netz Katalysator ist, eine enabling technology - die freilich auch, wie ich am Ende zeigen werde, auch zum Empowerment beitragen kann

a)
Leichte Zugänglichkeit zu lokal verfügbarer Datenverarbeitung und dezentralisierten Datenbeständen, soziale Dekontextualisierung - alle Menschen können als Hunde auftreten - , Ausdünnung der Kommunikationshierarchien und Relativierung der Gatekeeperselektivität, polydirektionale Kommunikationsmuster und staatliche Regulierungsschwächen haben seit langem bei Akteuren verschiedenster Provenienz zum Teil weitreichende Gleichheits- und darauf aufbauende Demokratievermutungen provoziert. Das Netz gilt so als Dimension und Tool eines neuen Strukturwandels der Öffentlichkeit, an das sich die Hoffnung einer Revitalisierung der modernen Demokratie heftet. Das Netz als neuer politischer Kommunikationsraum, der sich zur wichtigen Bewegungsform einer informierten und beteiligungsintensiven Mitwirkungsdemokratie entwickelt - oder (so die kulturpessimistisch einherkommende Mutmaßung) zur Ausdünnung des Arrangements indirekter, repräsentativer Elitendemokratie durch populistische Inszenierung eines schwankenden Mehrheitswillens.

"Und die Träume, Reportagen, Bilder, Editorials des Wohnzimmer-Publizisten aus Augsburg stehen im Netz gleichrangig neben FAZ, Welt, WDR oder SPIEGEL." (Spiegel 11/1996, S.88).

Demgegenüber muß auf grundlegende Ungleichheiten verwiesen werden, die den neuen Informationsraum signifikant auszeichnen und die nur in wenigen Fällen als Übergangsphänomen der Konstitutionsphase des Netzes als Massenmedium begriffen werden können. Es geht um Ungleichheit

  • in der geographischen Verteilung der Standorte der Netzwerkcomputer weltweit und innergesellschaftlich5
  • in der Geschlechter-, Sozial- und Qualifikationsstruktur der NetznutzerInnen und individuellen Provider
  • im Eigentum an Übertragungsnetzen, Servern, Operationssystemen, Routern usw.,
  • in der Finanzierung und
  • in den administrativen oder geldlichen Zugangskontrollen zu Netzen
  • in den Zugängen zu Bandbreiten bzw. Übertragungsgeschwindigkeiten
  • in der Produktion und Nutzung interaktiver Dienste, insbesondere hinsichtlich der Nutzungsmöglichkeit des Standards WWW und den darauf aufbauenden Orientierungsmedien sowie insgesamt der Ressourcenungleichheit zwischen den vormals das Netz dominierenden privat-individuellen und akademischen Anbietern und den heute das Netz beherrschenden ökonomischen Providern
  • in den neuen selbstorganisierten Zugangsfiltern der NutzerInnen
  • in den Möglichkeiten, an neuen hochschwelligen Netzkreisläufen teilhaben zu können
  • in der technischen und kommunikativen Kompetenz und der Beherrschung der englischen Sprache
  • am Eigentum (Copyright) am Content: Bilder, Texte, Zeichen sind bekanntlich nicht frei, sondern in Eigentumsverhältnisse verwickelt, die sich auch auf dem Netz reproduzieren.

Diese Ungleichheiten begründen natürlich, warum das Netz - je weiter es sich entwickelt - vor allem jene repräsentiert, die realgesellschaftlich Ressourcen mobilisieren können und schon dort als starke Institutionen präsent sind. Natürlich gibt es die Media-Rich und die Media-Poor auf dem Netz.

b)
Begeben wir uns in den Informationsraum hinein und fragen, ob er Eigenschaften hat, die dort - und nirgendwo sonst - existieren und ob diese eine politische Implikation haben. Als auszeichnende Eigenschaft des WWW - nicht des Usenet oder der E-Mail-Praxis - wird die Hypertext-, also Verweistruktur angesehen. Das Revolutionäre an Verweisen ist die Transzendierung der Fußnote. Mit dem WWW erhält die Fußnote mindestens eine weitere Fußnote und noch eine und noch eine - etwas, was kein Textverarbeitungsprogramm des Herrn Bill Gates jemals konnte. Was bedeutet diese Verweispraxis und welche politische Bedeutung hat sie? Das Web generiert den eigenartigen, systemspezifischen Zwang, Kenntnis vorhandener Präsenzen durch Links auszuweisen, somit das Bemühen, in einem Raum eigene Zentralität zu demonstrieren, dessen einfachste Grundstruktur eben durch das Verhältnis von Zentrum und Peripherie gebildet wird. Die grassierenden Hotlists, die es in anderen Medien so eben nicht gibt - dass es keine politischen Hotlists gibt, indiziert, dass dieser Bereich zu peripher ist; aber cool political sites of the day und ähnliches gibt es wohl - stehen für diesen Imperativ. Nur wer Verweiskomptenz demonstriert, verhält sich programmgerecht, systemspezifisch, informationsraumgerecht. Anerkennung durch andere vollzieht sich über einen zweistufigen Bildungsprozess von Zentralität: erstens Nachweis der Kenntnis des Informationsraumes durch Verweise auf andere/s, zweitens Aufbau eines exklusiven Angebots, auf das selbst verwiesen wird, das also ins Zentrum rückt - am Ende steht als Höhepunkt die Namensgebung: ein Angebot wird benannt nach dem Namen des Anbieters. Seit 1996 existieren Verzeichnisse, die täglich weltweit Web-Sites nach der Anzahl der Zugriffe auflisten.
Netzreputation - entsteht durch kompetente Verweise auf andere/s und Verweise anderer auf sich selbst. Reputation und Zentralität durch Hypertextverweise hängen auf durchaus vertraute wechselseitige Weise miteinander zusammen: Reputation schafft Zentralität, Zentralität generiert Reputation. Es gibt jedoch eine substantielle Differenz zwischen beiden Prozessen. Netzspezifische Reputation kann nur durch Zentralität im Verweissystem entstehen. Ein Prozess, der für die erste (Früh-)Phase der politischen Geschichte des WWW-Netzes bis etwa 1994 typisch ist, in der folglich die verschiedenen - militärischen und privaten - Akteure des right side of the Web gegenüber einem kaum präsenten sonstigen politischen Spektrum harmonisch hegemonial zusammenspielten.
Netzunspezifische Reputation demgegenüber kann irgendwoher kommen und Zentralität herstellen; dafür stehen Organisationen, Institutionen, Parteien usw., die das Netz seitdem in der zweiten Phase seiner politischen Entwicklungsgeschichte kolonisieren und aus ihrer importierten Reputation äußerst schnell Zentralität begründen. Nun beginnt sich das realgesellschaftliche Spektrum auf dem Netz zunehmend spiegelbildlich zu reflektieren: legitime politische Organisationen und Positionen, zivile staatliche Einrichtungen und die politische Mitte werden seit 1994/5 in rasch wachsender Zahl und mit zunehmendem Ressourceneinsatz präsent auf dem Netz: Mainstream-Medien wie "Spiegel" und "Focus", Bundestagsparteien, Großverbände. Dieser Prozess ist noch lange nicht abgeschlossen.
Zunehmend parallel geschaltet verläuft mittlerweile bereits eine dritte Phase: Demonstration von Verweiskompetenz seitens jener, die durch eine - aus der Perspektive des Netzes: geliehene - externe Reputation Zentralität (Fremdverweise auf sich selbst) generierten und diese Verweise nun nutzen, eine eigene Verweisstruktur aufzubauen und damit netzsystemspezifische Verweiskompetenz zu demonstrieren, also zusätzliche - doppelte - Zentralität zu generieren. Damit positionieren sie sich als starke Netzakteure, die Einfluß ausüben können: wer einmal auf den Sites des Weißen Hauses oder der CDU gelandet ist, soll - bis auf die Stoffelche - dort alles bekommen können, was er oder sie so braucht. Denn Politiker reden nicht gerne in oder zu Räumen, die sie nicht kontrollieren können.
In einem Raum, in dem zählt, wer sich zentral positioniert, steht das Verhältnis von Zentrum (oder Zentren) und Peripherie(n) im Mittelpunkt der Operationslogik und damit des subjektiven Akteursinteresses. Diesem Verhältnis können sich jene, die sich auf dem Web zu positionieren suchen, nicht entziehen. Die Konsequenz ist sehr einfach: die Zehntausende von selbst bezahlten und -gemachten Web-Home-Pages, die Verweise auf den "Spiegel" oder das "White House" oder womöglich "CDU.org" enthalten, sind - großenteils unbewußt - ein völlig vergeblicher Versuch, den Zustand des Peripheren, des Außenseitertums zu verlasssen. Der Hyptertextmechanismus ist nichts anderes als ein fast unentrinnbarer Imperativ, Peripherie, Marginalität oder, politisch formuliert, Dissens zugunsten von Zentralität oder, politisch formuliert, Mainstream zu verlassen. Die technische Logik der globalen Hyptertextmaschine WWW hat also politische Implikationen: sie orientiert auf das politische Zentrum. Soviel die zweite Begründung meiner Vermutung zweiten Grades.

c) Die politisch bedeutungsvolle technische Logik des Hyptertextmechanismus wird durch die spezielle Funktionsweise der mittlerweile etablierten Orientierungsprozeduren massiv gestützt. Während bis 1994 Kataloge, virtuelle Bibliotheken, Verzeichnisse, Guides und den Browsern beigegebene Sammlungen zur Benutzerführungen das dominierende Orientierungsmittel auf dem Netz waren, haben ihnen seitdem die weit ausgreifenden Suchmaschinen offenbar den Rang abgelaufen, von denen "Internet Sleuth" Anfang 1996 über 900 zusammenstellte. Ihre Nutzung ist zur Standardprozedur geworden, die das sequentielle oder diffuse Abarbeiten von Verweisen weitgehend ersetzt. Die Kapazität dieser Programmkomplexe der Suchmaschinen ist mittlerweile beträchtlich: Alta Vista gibt an, im Frühjahr 1996 21 Millionen Seiten mit mehr als 8 Mrd Wörtern vollindiziert zu haben. Die täglichen Zugriffe auf den Site liegen bei 2 Millionen. Lycos, welches das Netz täglich katalogisiert, hatte Anfang 1996 19 Millionen URL`s (einschließlich Bildern, FTP und Gopher) erfasst, darunter 11,5 Millionen WWW-Seiten, von denen weniger als die Hälfte voll indiziert waren; die Lycos-Datenbasis umfasste im Frühjahr 1996 ca. 2,3 Mrd Wörter. Die Suchmaschinen nutzen Softwareagenten (Spider) um eine URL nach der anderen aufzusuchen. Dort einmal angekommen, verhalten sich die einzelnen Maschinen jedoch unterschiedlich. Einige Maschinen senden ihren Agenten zu jeder Seite und nehmen den Volltext jeder Seite auf. "Andere", so schreibt ein Beitrag in Internet World vom Mai 1996, "analysieren zunächst die Adressen des Datensatzes um zu ermitteln, welche Sites am populärsten sind (typischerweise, indem sie die Anzahl der Links ermitteln, die auf die fraglichen Sites verweisen). Dann schicken sie Programme aus um Informationen nur über diese Sites zu erfassen" Ein Beispiel ist die Excite-Suchmaschine, die ca. 1,5 Millionen Seiten indiziert hat: "Die Maschine versucht nicht, alle Web-Seiten zu sammeln, sondern sie baut eine Schätzung der populärsten Seiten auf, indem sie die Links erfasst, die auf Seiten liegen, die bereits als populär bekannt sein. Um Seiten zu finden, die noch nicht populär sind, wird der Spider zu einer Anzahl "What`s New"-Sites geschickt." Zu Lycos vermerkt Internet World: "Lycos baut seine Datenbank kumulativ auf, statt sie periodisch von Neuem zu generieren. Indem Lycos Informationen über neue und bereits existierende URL`s regelmässig updated, stellt die Lycos-Software ein Maß der Popularität jedes Sites her, indem sie nach der Zahl anderer Links schaut, die auf diese Sites verweisen. Die Maschine nutzt dann diesen Popularitätsindex, um jede einzelne Suche durchzuführen.... " Auch der Web Crawler fungiert nach dem Popularitätsindex: seine ca. 500 000 Seiten umfassen - neben den selbst angemeldeten - nur solche Seiten, die "gut besucht erscheinen oder Lücken in der vorhandenen Datenbank füllen." Die Suchmaschine Infoseek, die ca. 1 Million Seiten indiziert hat, ordnet die gefundenen Seiten nach "Relevanz", d.h. der Übereinstimmung mit den abgefragten Parametern und ermöglicht eine Anschlussuche nach "ähnlichen Seiten". Open Text, WWW-Worm und Lycos vermerken, wie oft Suchbegriffe gefunden wurden und erstellen so einen zusätzlichen Filter. Die mittels Generierung und erweiterter Reproduktion von "Popularitätsindexen" funktionierenden Suchmaschinen verdoppeln so die technische und politische Logik des Hypertextmechanismus. Dies die dritte Begründung der Vermutung zweiten Grades zum politischen Charakter des Internet. Die netzweltliche Verdopplung realer Ungleichheit, die zentrumsfavorisierende Programmlogik des Hypertextes und die Verstärkungseffekte der Suchmaschinen nach dem Motto "Wer hat, dem wird gegeben" - man könnte auch sagen: "Wer Links hat, dem wird Recht gegeben" - das alles läßt mich den weitreichenden und großartigen Demokratiehoffnungen, die sich auch mit dem Web verbinden, leider sekpetischer gegenüber stehen, als ich möchte.

4 Wenn - wie Wolfgang Coy es entwickelt hat - die Informationsgesellschaft der Name für das Ende der Neuzeit ist, bezeichnet sie dann nicht auch das Ende der neuzeitlichen Demokratie bürgerlicher Moderne? Vielleicht ist das der Grund, warum zum Beispiel Siegmar Mosdorf zur Eröffnungssitzung der Enquetekommission "Zukunft der Medien" sagte, "daß wir es mit nichts weniger als einem ökonomischen, technologischen und kulturellen Quantensprung...zu tun haben". Von einem Quantensprung in der Politik war nicht die Rede. Infrage gestellt wäre dann die moderne Demokratie als Form politischer Herrschaft, deren Aufgabe es war, politisch zu integrieren, was gesellschaftlich gegeneinander stand, da es ökonomisch in unauflösbare Widersprüche gesetzt war. Für das Funktionieren einer Gesellschaftsordnung, in der die Politik der einzige Geltungsbereich des Mehrheitsprinzips ist, haben politische Organisationen und Institutionen wie auch die im letzten Jahrhundert erfundenen Massenmedien neben anderen zwingend die Funktion der Verabeitung der Konflikte aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen. Verarbeiten heisst Stillegen, Ignorieren, Verschieben, Austragen von Konflikten. Diese Aufgabe der Massenmedien, politische Integration zu reproduzieren - also das große Bilder- und Talkschaurauschen, den Frohsinn - realisieren sie, indem sie eine zentrale Errungenschaft der politischen Moderne sukzessiv vernichten, für die im politischen Alltagssprachgebrauch seit einigen Jahren der Begriff der Zivilgesellschaft verwandt wird. Massenmedien organisieren Zivilgesellschaft - viel mehr aber noch vernichten sie diese. Die zentrale politische Innovation des 19. und 20. Jahrhunderts war die Massenorganisationen der Arbeiterbewegung - Partei und Gewerkschaft - als Nomenklatur oder Repräsentanz der neuen Klasse. Diese politische Repräsentanz basierte auf Gruppenidendität, auf deren Erfahrungshintergrund individuelle Entscheidungen getroffen wurden und Wahl, Mandat, Delegation Bedeutung hatten. Diese alte Kohärenz zerbricht. Das Resultat ist die Krise der politischen Repräsentanz, als deren Element Politikverdrossenheit, Gleichgültigkeit und Delegitimation einzelner politischer Mehrheitsentscheidungen oder dieses Verfahrens selbst gelten können - Stichwort "Demokrativersagen". Ich frage mich, ob für die Erklärung dieser Repräsentanzkrise - die über die Arbeiterbewegung ja weit hinausgeht - nicht Analysen hilfreich sein könnten, die am - sicherlich ziemlich anders gelagerten - US-amerikanischen Beispiel gewonnen wurden. Robert Putnam hat vor wenigen Monaten in der Zeitschrift "American Prospect" eine Analyse mit dem Titel "The Strange Disappearance of Civic America" veröffentlicht 6, die zeigt, dass es einen langandauernden Rückzug der Amerikaner aus dem gesellschaftlichen und öffentlichen Leben gibt. Die "public person", der "citizen", das "zoon politikon" verschwindet. Anhand umfangreichen empirischen Materials - Vereinsmitgliedschaften, Zeitungsabonnements, Wahlverhalten usw. usf. - diagnostiziert er einen Generationsbruch: Die engagierte Generation, die zwischen 1910 und 1940 geboren wurde, erreichte ihren Zenit 1960, als sie 62 % der Wählerschaft ausmachte. Seit dieser Zeit sind die Rückzüge evident. Wer also ist der Hauptverdächtige? Wie das Ozonloch entdecken wir ihn erst Jahrzehnte, nachdem er zu wirken begann: es ist, so Putnam, das Fernsehen. 1950 hatten 10 % der Amerikaner TV, 1959 90 %, 1995 lag der TV-Konsum per Haushalt doppelt so hoch wie in den 50ern, bei 3-4 Stunden, 3/4 der Haushalte hat mehr als einen TV und ermöglicht individualisierte TV-Nutzung. Betrachtet man das Zeitbudget, dann hat das Wachstum des TV-Konsums in den USA zu einem Viertel bis zur Hälfte beigetragen zum Rückgang gesellschaftlicher und öffentlicher Tätigkeiten und zur Privatisierung der individuellen Zeit. Hier geht es schon lange nicht mehr um die Passivität der "Zuschauerdemokratie" des TV-Systems, sondern um das Verschwinden demokratischer Kultur - etwas, das das liberale Demokratiemodell als Toleranz der Nichtbeteiligung ausweist.

Noch einmal: wenn wir die Informationsgesellschaft als das Ende der Moderne ansehen und das Leitmedium der auslaufenden modernen Industriegesellschaft - das Fernsehen - mehr oder weniger entscheidend zur Zerstörung der zivilgesellschaftlichen Grundlagen, Gruppenidenditäten und Klassenrepräsentanzen der modernen Demokratie beigetragen hat, ist zu fragen, woher die Hoffnung kommen soll, dass das Netz als mediale Kernstruktur der neuen Informationsgesellschaft ausgerechnet eine Revitalisierung der Demokratie bzw. politischen Öffentlichkeit bewirken soll und nicht vielmehr eine Vollendung dieses Prozesses der Konstruktion privatistisch existierender Individuen durch viertualisierte und elektronisch mediatisierte politische Kommunikation. Von Individuen, die ja übrigens zukünftig keine Arbeitnehmer mehr sein werden, sondern millionenfach individualisiert als unselbständige Selbständige gleichsam als je einzelnes Profitcenter an ihrem Marktsegment des globalen Unternehmensnetzes hängen und sterben. Eine Netzes im übrigen, dessen Propagandisten ja heute schon mit entsprechender Demokratierethorik auf den Lippen und der Home-Page es feiern, dass der Kunde von selbst zum Konzern kommt, sich alles, was er braucht, mit Netz-Card herunterlädt und dazu weder Gewerkschaft, Verbraucherverein oder die SPD braucht. Der direkte Zugriff vom Netzkonzern zum Kunden - das ist der Markt ohne Friktionen, von denen Bill Gates in seinem Buch sprach und das ist die politische Netzstruktur des Leaderismo, den Berlusconi mit dem alten Medium vorgemacht hat.

5 Doch Berlusconi ist gescheitert. Nun also nach dem Dritten Grad - Stichwort: historischer Pessimismus - zum Rotschwänzchen, also praktisch-politischer Optimismus und Moral. Das Rotschwänzchen hat 7 Schwanzfedern.

1. Der englische Soziologie Anthony Giddens hat von zwei Verständnissen der Demokratie gesprochen: Demokratie als Interessenrepräsentationen und Demokratie als Deliberation, als Ort der Kommunikation, des Arguments, der Diskussion. Interessenrepräsentation ohne Dialog oder Deliberation ist undemokratisch und zudem ineffektiv. Dialog ohne Interessenrepräsentation ist politisch halbiert, weil um die Entscheidungsdimension gekappt. Das Netz ist kein Ort demokratischer politischer Entscheidungen, aber ein Ort der Kommunikation, ohne die Entscheidungen undemokratisch und ineffektiv sind. Natürlich braucht die Öffentlichkeit Informationen, aber es geht um um Informationen, die durch Debatte geschaffen werden. Wir müssen das Netz als Raum der zweckgerichteten, nämlich entscheidungsvorbereitenden interaktiven Kommunikation zur Interessenrepräsentation nutzen.

2. Die Repräsentationskrise der Moderne begünstigt populistische Politik, den Leaderismo, wo das Netzindividuum scheinbar direktdemokratisch im Kontakt steht mit politischen Führungsintallationen und unter Umgehung der intermediären Organisationen, wie der Gewerkschaften7. Umgekehrt wird ein Schuh daraus: das politische Individuum steht - ohne kollektive Schutzrechte, Filter, Willensverstärker - dem Leader gegenüber. Notwendig ist, dass intermediäre Organisationen wie die Gewerkschaften die Interessen ihrer Mitglieder im Netz repräsentieren und dabei eine Form der demokratischen - z.B. dezentralen - Organisation und Repräsentation der individuellen Interessen erarbeiten. Das Netz ist eine dezentrale Medientechnologie, eine Assoziationstechnologie. Das geht hier viel leichter als im Falle aller anderen Massenmedien.

3. Die Netze der Zukunft werden weit differenzierter sein als heute und eines ist sicher: die Steuerung der Zugänge und Nutzung über das Medium Geld wird eine weit wichtigere Rolle spielen als heute. Gute und schnelle Bilder und Daten werden weitaus mehr kosten als heute.8 Was es umsonst gibt, soll wertlos werden oder sein. Es ist demgegenüber notwendig, öffentliche, kostenlose oder billige Räume mit hochwertigem Inhalt zu sichern. "Wenn Geldautomaten an jeder Straßenecke aufgestellt werden können", fragte jüngst Patricia Mazepa in einem Aufsatz, "warum dann nicht auch öffentliche Netzterminals?"9

4. Gewerkschaften, kleine Verbände oder Betriebsräte werden kein Eigentum an Maschinen, Netzen, Kanälen und Kabeln erwerben können. Wie können sie Aufmerksamkeit auf sich lenken, sichtbar werden? Es gibt dafür nur einen Weg: Content-Provider der Wünsche und Interessen ihrer Mitglieder zu werden, keine Benutzerführung, sondern Organisation der Selbstorganisation. Das ist die politische Hauptaufgabe solcher Organisationen und hier stehen sie noch am Anfang. Warum gehört nicht zum Erwerb der Gewerkschaftsmitgliedschaft das Angebot, auf einem Gewerkschaftsserver eine Home-Page einzurichten? Eine Zuverlässigkeitsbeglaubigung besonderer Art gibt es dann: die Information kommt direkt aus der Quelle und nicht von CNN oder dpa.

5. Das Netz ist in mehrfacher Hinsicht ein Universalmedium: es schließt mündliche face-to-face-Kommunikation ebenso ein wie audio-visuelle und gedruckte Medienpraxen, erhöt bei minimierten Kosten die Transaktionsdichte, ermöglicht Broadcasting und Narrowcasting. Großorganisationen wie die Gewerkschaften mit einer Tradition breiter Dienstleistungen für viele Lebens- und Arbeitsbereiche sind hervorragend disponiert, zielgruppenspezfisch auf dem Netz zu operieren und Spezialmärkte für Individualkommunikation abzudecken. Dazu müssen sie Information Brokers entwickeln, Netzmarketing betreiben und komplexe Querschnittsmedienpolitiken zur politischen Mobilisierung entwickeln - die IG Medien müßte der beste Content-Provider der WWW-Republik werden. Das Netz ist eine überlebensnotwendige Modernisierungschance: die suprastaatlichen, deterritorrialisierten Unternehmensnetzwerke der Zukunft sind die neuen idenditätsbildenden Arbeits- und Berufsorte, in denen Allianzen gerade mithilfe elektronischer Kommunikation und Organisierung gebildet werden müssen. Das heißt natürlich auch Organisationsmodernisierung - hieß Macht (auch in Organisationen) bisher: "schwer erreichbar sein" - also kein Handy haben - , so heißt es heute: sofort erreichbar sein. Eine komplizierte Sache.

6. Symbolische Politik und Politik mit Symbolen wird mit der medialen Vernetzung an Bedeutung gewinnen. Dazu gibt es eine unmoderne Tradition in der Arbeuterbewegung. Bilderkenntnis ist heute wichtiger denn je, wer macht sich über die politischen Implikationen der Netzbilder Gedanken?

7 Momentan geht es um Industrie-, Kommunikations- und Technologiepolitik gleichermassen. Die Gestaltungsoptionen dieser Politiken vermitteln sich stark ueber Leitkonzeptionen und Entwicklungsvisionen, die unterschiedliche Demokratiekonzeptionen reflektieren: Libertaere Wertsysteme, die auf individuelle Gedanken-, Meinungs- und Redefreiheit als traditionellem Kernbestandteil bürgerlicher Demokratie abstellen und gegenüber staatlicher Intervention kleinunternehmerische Handlungsfreiheit und - kreativitaet betonen Grundversorgung, Praxistraining.

8. Gewerkschaftliche Netzpolitik kann kein Interesse daran haben, geschlossene Netzräume zu konfigurieren, sondern muß - der Logik des Netzes folgend - offene Angebote bauen, sichtbare Allianzen schließen, Positionen aufbauen: durch transparente Zitierkartelle, Arbeitsteilung, Verweispolitiken usw. Offene Netze und offene Politik bedingen sich. Das heißt natürlich nicht, dass die Inhalte beliebig werden. Der amerikanische Stadtsoziologe Manuel Castells hat im März 1996 auf einer Diskussion am MIT bemerkt: 'ein Drittel oder ein Viertel der US-Bevölkerung ist nicht nur arm, ausgebeutet oder depressiv, sondern einfach irrelevant. Wer ausgebeutet ist, sagt Castells, hat eine soziale Beziehung und Bedeutung. Du weißt, mit wem Du es zu tun hast. Wenn Dich ein anonymes Netzwerk marginalisiert - wo ist dann der Sinn?' So denke ich, dass die grenzenlose - "anonyme" -Netzförmigkeit der zukünftigen Arbeits- und Kommunikationsweisen es mehr denn je erfordern, was im ersten Beitrag dieses Seminars von Gerd angeschnitten wurde: solidarische Diskussion, Beratung, Bildung, sinnhafte Orientierung über die wirkliche Gesellschaft, in der wir leben und die Interessen, mit denen wir es zu tun haben.

Vortrag DGB-Bundesschule Hattingen, 11.10.1996