Hegemon Deutschland?

domain rule.comDie Linke liebt Programme und Visionen. Sie halten, je nach territorialem Zuschnitt, bis zum nächsten Wahlkampf. Bei vielen Analysen und Einschätzungen zur Lage dagegen gibt es merkwürdig viel Unklarheiten. Nach der Lektüre diverser Texte, die sich mit dem Zustand Europas befassen frage ich mich, wie eigentlich die politische Stellung der Bundesrepublik Deutschland in Europa bestimmt werden kann. Ist sie führend, dominant, hegemonial, imperial? Und wenn ja – wie viele, seit wann und warum? Es wäre übertrieben zu sagen, es gäbe über diese nicht nur für eine Linke ganz offensichtlich relevante Frage Konsens oder wenigestens eine kontinuierliche Debatte. Gefühlt, also ungerecht, ist das nicht der Fall.  Allerdings – eine gewisse Debatte existiert, sie wird aber eben nicht im hergebrachten publizistischen Raum der Linken geführt. Gestritten wird darum, ob Deutschland eine oder die hegemoniale Position einnimmt. Christoph Schönberger, Hochschullehrer an der Universität Konstanz,  hat vor einem Jahr im Merkur 1/2012 einen Beitrag unter dem Titel „Hegemon wider Willen“ veröffentlicht, der einige Resonanz fand (etwa bei der TAZ:  „...schreibt darin überzeugend gegen vorherrschende Klischeeängste vor einer deutschen Hegemonie in Europa an: Ein Hegemon darf ja gerade die anderen Staaten nicht dominieren, sondern muss sehr stark auf ihre Interessen achten.„) Der Topos vom „Hegemon wider Willen“ oder der ‚notwendigen und unvermeidlichen deutschen Führung in Europa‚ verbreitet sich – nicht nur dank Schönbergers Artikel. „Deutschland ist nun als einzige Führungsnation übrig geblieben. Ein Dominator wider Willen, ein zögerlicher Hegemonkommentierte im Oktober 2010 der Leiter des außenpolitischen Ressorts der SZ Stefan Kornelius. Ebenso im Journal of Common Market Studies vom September 2011  (Suppplement S1, S.57-75) William E. Paterson, der bilanziert:

The eurozone crisis catapulted Germany into a hegemonic role. This was not a role sought by Germany. As we have seen, there was no strategy to build a more central role for Germany on the political opportunity structures created by the Lisbon Treaty. As the dominant economy and key creditor state Germany could, however, scarcely avoid a hegemon role. (S.73)

Ähnlich pronociert schreibt in der Beilage Aus Politik und Zeitschichte 10 / 2012 Ulrike Guérot („Eine deutsche Versuchung. Östliche Horizonte?„):

Es müsste ein globaler Machtentwurf für die EU skizziert werden, in welchem die ökonomische und die politische Macht in Europa überzeugend zusammengeführt werden, 32 in welchem dezidiert vergemeinschaftete Konzepte von unter anderem Energie-, Sicherheits- und Wirtschaftspolitik verfolgt werden und nicht mehr zugelassen wird, dass diese durch nationale Politiken ausgebremst werden. (…) Es wird Deutschland sein müssen, das eine geschlossene EU gen Osten und in die globale Welt führt, oder die EU dürfte innen- und außenpolitischen Desintegrations- und Fliehkräften unterliegen. Die eigentliche Frage ist, ob Deutschland dafür innenpolitisch noch die notwendige Energie und innerhalb Europas noch gleichgesinnte Partner hat. (…) Dennoch: In der EU passiert nichts ohne, geschweige denn gegen Deutschland. Deutschland ist in der EU gleichsam der „erste Beweger“. Darum sollte es Ziel deutscher Außenpolitik im 21. Jahrhundert sein, von einer weitgehend fremdbestimmten Westbindung im vergangenen Jahrhundert zu einer selbst bestimmten Westbindung zu gelangen.“

Kritische Beiträge mit Referenz zu Schönbergers Artikel von 2012 kamen u.a. von Perry Anderson (New Left Review und Le Monde Diplomatique), Erhard Crome (WeltTrends), Hans Kundani (Council on Foreign Relations, London in der „Internationalen Politik“ der DGAP zum „Zurückhaltenden Hegemon„), in der Washington Quarterly („Germany as a geoeconomic Power„) und im Project Syndicate  zu „A German empire?„); endlich ein Beitrag des Verfassers im mehring1„-Blog („Bürde der Hegemonie„). Im Merkur äußerten sich ebenfalls kritisch Werner Link („Integratives Gleichgewicht und gemeinsame Führung„, Merkur 762, 2012) und Christian Joerges („Recht und Politik in der Krise Europas„, Merkur 762). Im neuesten Heft des Merkur nun (Heft 764, 1/2013 S.25-33) legt Schönberger nach und eröffnet seinen Text („Nochmals: Die deutsche Hegemonie“) mit einem kritischen Hinweis Helmut Schmidts in einem Brief an Schönberger von Anfang 2012 („Von einem Führungsanspruch Deutschlands in Europa ist zu warnen“) – eine Formulierung, die von Schmidt recht regelmässig zu hören ist (etwa in der Welt vom Dezember 2012 – „Weil Führung fehlt, weist manch einer in Europa den Deutschen diese Rolle zu. Wir sollten uns aber vor einer solchen deutschen Führungsrolle hüten“). Demgegenüber stellt Schönberger eine Reihe von Argumenten zusammen, die eine Hegemonialrolle Deutschlands begründen sollen und helfen, den Begriff der Hegemonie überhaupt ins Spiel bringen zu können.

  1. Der Ausgangspunkt ist dabei der von ihm gewählte Hegemoniebegriff, der zurückgeht auf Heinrich Triepel 1. Er meine nicht Herrschaft, deren Macht sich auch gegen Widerstand durchsetzen könne. „Vielmehr bezeichnet sie den bestimmenden Einfluss, den der führende Staat innerhalb eines föderativen Staatenzusammenschlusses ausübt.“ Und: „Macht und Einfluss eines bedeutenden Staates sind zwar eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für dessen Hegemonie. Hierfür bedarf es einer besonderen rechtlich-institutionellen Verflechtung des führenden Staates mit denjenigen Staaten, die im Einflussfeld seiner Hegemonie liegen, Der bestimmende Einfluss einer Hegemonialmacht ist immer zugleich gebändigt“ (26). Hegemonie meine eine „Zwischensituation der mit Abstand größten, aber nicht überwältigenden Macht“ (27). Für Schönberger ist Hegemonie also „in erster Linie ein Phänomen föderativer Staatenzusammenschlüsse“ und eben „nicht unwiderstehliche Herrschaft“ (29). Daher sei sie erträglich und Akzeptanz sei möglich. S. verwendet hier einen sehr spezifischen und engen Hegemoniebegriff, der sich nur auf die Verhältnisse zwischen Staaten (eigentlich: Großmächten) bezieht und andere Akteure ignoriert und dabei föderative Staatenzuschlüsse voraussetzt (ob die EU ein solcher ist, bleibt offen). Bei der Schilderung der Veränderung der deutsch-französischen Beziehungen formuliert S. freilich, dass Frankreich „kaum noch in der Lage (ist), gegenüber der Bundesrepublik einen eigenständigen Gestaltungswillen zu entfalten“ (28). „Der hegemonialen Position Deutschlands“, resümiert S., habe Frankreich „auf absehbare Zeit kaum etwas entgegenzusetzen.“ (28). Warum für die hier aufgerufene „kaum“ eingeschränkte Ohnmachtsposition Frankreichs gegenüber der Bundesrepublik oder die „maßgeblich von der deutschen Regierung erzwungenen Sparpakete in den südeuropäischen Staaten“ (30) nicht der von S. abgelehnte (auf Weber zurückgehende) gängige Herrschaftsbegriff bzw. der Begriff der Dominanz verwandt werden müsste, bleibt S.‘ Geheimnis. 2
  2. Der Topos des „Hegemon wider Willen“ ist durchgängig. Es gehe „um eine Führungsrolle, die Deutschland aufgrund seiner geoökonomischen Situation zugefallen ist und der es nicht ausweichen kann.“ (25).  Oder: die Krise habe „die Unausweichlichkeit der deutschen Führungsrolle erst in vollem Ausmaß deutlich werden lassen“ (30). Oder: „Deutschland ist heute europäischer Hegemon nicht nur wider Willen, sondern auch faute de mieux“ (32) oder endlich: „Die Bundesrepublik hat diese (hegemoniale) Rolle nicht gesucht und ist darauf kaum vorbereitet, muss sie jetzt aber schlecht und recht ausfüllen.“ (33). Die BRD hat eine geoökonomische Mittellage, es handelt sich um den „größten“ Mitgliedsstaat (29), ihr Handeln als Hegemon werde akzeptiert und somit gestützt und sie sei, wenn auch noch recht stolprig, imstande“ stärker als andere Mitgliedsstaaten das Gesamtinteresse im Blick (zu) haben.“ (31). Diese nicht neuen Argumente stammen aus der Welt technokratischer Machtlegitimation, rufen die politischen Zwänge von Sachgesetzlichkeiten („Geoökonomie“) auf und entledigen sich so jeder Verantwortlichkeit (etwa für die „erzwungenen Sparpakete“).
  3. Hegemonie ist eher Bürde als Privileg“ (30) ist ebenfalls ein alter Topos – wer erinnert sich nicht an die „Bürde des weissen Mannes“, zivilisatorische Bürden aller Art etc., usw. Aufgabe des Hegemons ist es „den gesamten Bund mitzubedenken“ (31). Dass freilich dieses Mitbedenken ein besonderes Eigeninteresse des Hegemons mittransportiert (z.B. ein neoliberales Sparregime zu verallgemeinern) kommt in dieser schwermütigen Rede von der „Bürde“ nicht vor. Derlei Rede hat immer einen Hauptzweck: die Rede vom „Privileg“ – also etwa vom Gewinn an Kapital oder Macht zu Lasten anderer – erst gar nicht aufkommen zu lassen.
  4. Schließlich kommt die Argumentation Schönbergers ohne jeden nennenswerten Bezug auf die Demokratiefrage aus. Die in der Krisenära auf der Ebene der EU und ihrer verschiedenen rechtlichen Arrangements wie auch auf der Ebene der Nationalstaaten (also auch der BRD) entstandene postdemokratische Dynamik 3 ist ihm keine Erwägung wert – und ebensowenig die postdemokratische Dynamik in den Machtrelationen zwischen den europäischen Staaten.

In dieser Frage liegt freilich ein wesentlicher Schlüssel zum Verständnis der Hegemoniefrage: der evidente Akzeptanzverlust, der geradezu bei jeder Wahl in Europa in den letzten Jahren notiert werden konnte, hat nicht nur, aber auch mit der Ausbeinung des ohnehin schwächlichen Demokratiekapitals zu tun – und damit eben des Hegemoniekapitals, das zugunsten einer wachsenden Dominanzrolle Deutschlands in Europa schwindet 4.

 

Notes:

  1. Die Hegemonie. Ein Buch von führenden Staaten, Stuttgart 1938
  2. aber Schönbergers bereits im ersten Text ausgebreitetes Downgrading Frankreichs fügt sich in eine erstaunlich anschwellende gleichlautende Journaille ein, die mit dem Regierungswechsel zu Hollande einsetzte; seine ersten Lobenszeilen heimste dieser jetzt auf üblichem Wege (via Mali) ein.
  3. neue Dominanzen der Exekutive, rapide Einschränkungen der parlamentarischen Kontroll- und Entscheidungsansprüche bzw. -rechte, Ausweitung unkontrollierter, entrechtlichter situativer Maßnahmestaatlichkeit. Siehe dazu im Einzelnen Christian Joerges.
  4. In diese Richtung argumentiert auch Kundani.

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