Rainer Rilling


in: Werner Bramke (Hg): 4. Alternativer Hochschultag (11.3.1995), Texte zur Hochschulpolitik 1, Leipzig 1995, S. 35-40

home  texte

 

Mit der Datenautobahn in den Elfenbeinturm?

Was Hochschulpolitik mit G-7, World Wide Web und nicht nur mit der PDS zu tun hat

Fast völlig unbeachtet von der normalen hochschulpolitischen Öffentlichkeit und ihren Akteuren sind Wissenschaft und Hochschule zum politischen Kampfplatz um ein Medium geworden, das in den letzten Wochen die Gazetten füllte: Ob die »Woche« oder die »Wochenpost«, der »Spiegel« oder »Die Zeit«, »Newsweek« oder »Neues Deutschland«, »Bild der Wissenschaft«, »Spektrum der Wissenschaft« oder »Forum Wissenschaft« - alle redeten von der Datenautobahn. Keines der genannten Blätter vergaß lustige Hinweise derart, daß, wer will, in Santa Monica sich eine Pizza per Internet ordern, eine Sammlung von jetzt rund 25 Realzeit-Cola-Automaten aus aller Welt sich auf den heimischen Bildschirm bringen und im Computer-Laboratorium der Universität von Cambridge per Videokamera und World Wide Web eine leerlaufende Kaffeemaschine beobachten könne.

Kaum jemand erwähnte, daß das Internet als bisheriges Kernstück dieser Autobahn ein akademisch-wissenschaftliches Netz ist und das Deutsche Wissenschaftsnetz der Hochschulen und Wissenschaftseinrichtungen in der BRD das Rückgrat des deutschen Internet bildet und dieses wissenschaftliche Kommunikationsmedium, dessen Nutzung auch an den Hochschulen gegenwärtig rapide zunimmt, damit zentral von zwei weiteren Sachverhalten betroffen ist, die ebenfalls kaum Thema für die erwähnten Blätter sind

- daß nämlich gegenwärtig die entscheidende Auseinandersetzung um die politische Regulierung, ökonomische Kontrolle und inhaltliche Ausgestaltung dieses neuen Mediums begonnen hat und - daß das Internet ausgehend von den USA- mit großem Tempo

zum modernsten Instrument der Verbreitung konservativer, militaristischer und religiös-fundamentalistischer Politik, Kultur und Ideologie wird, also ein immer deutlicher explizit politisches Medium wird.

Nun gibt es ja auch good news: Weder Kohl noch Kinkel noch Stoiber sind online. Die bad news: Das wird sich ändern. Mit Sicherheit wird es in absehbarer Zeit eine propagandistisch gut gepflegte E-Mail-Adresse oder World Wide Web-Home Page des Bundeskanzleramts geben, wie schon seit 1994 in den USA das Weiße Haus. Und man sollte sich nicht täuschen: Wie in den USA werden hier täglich Tausende und bald auch Zehntausende vorbeischauen, lesen und das glauben, was sie da lesen und vor allem an bunten Bildern sehen. Wie rasch dieses Medium expandiert, zeigen wenige Zahlen: Wöchentlich werden in der Bundesrepublik 30 000 Modems ans Telephonnetz gehängt, heute sind es schon zwei Millionen; die Zahl der NutzerInnen in der BRD hat sich im letzten Jahr verdoppelt, weltweit hängen am Internet (das nur ein Netz unter vielen ist) rund 35 Millionen NutzerInnen und knapp fünf Millionen Computer. Über 2 000 Konzerne kommunizieren und offerieren Angebote über ihre eigenen Server. Die großen deutschen Print- und Multimediakonzerne wie der Spiegel oder Bertelsmann haben sich mit großen Netzanbietern, Compuserve und American Online zusammengetan und bauen ein kommerzielles Netzangebot auf. Die neuen Betriebssysteme OS/2 bzw. Windows 95, die zukünftig auf allen PC' s liegen werden, haben den Hauptzweck, die bislang fast ausschließlich als private Textverarbeitungssysteme genutzten Maschinen in soziale und damit auch kapitalisierbare Kommunikationssysteme zu verwandeln, sei es in rezeptive (Video-On-Demand etc.) oder in interaktive. Die neuen Textverarbeitungssysteme werden es sehr leicht machen, Texte so zu erstellen, daß sie auf das Netz gebracht werden und dort weltweit gelesen werden können. Diese neuen Kommunikationsverhältnisse reflektieren, reproduzieren und rekonstruieren natürlich die modernen allgemeinen politischen, kulturellen und sozialökonomischen Verhältnisse - und zwar gegenwärtig auf eine sehr zugespitzte Weise.

Die auf dem G-7 Ministertreffen zur Informationsgesellschaft letzte Woche beschworene globale Datenkommunikation ist bislang auf etwa ein knappes Prozent der Weltbevölkerung begrenzt. Das Cyberspace ist kein global village, sondern ein von lautstarken weißen Männern bevölkerter Vorstadtclub der amerikanisierten globalen Mittelklasse. Tipps für Arbeitslose gibts nicht auf dem Netz. Middle Class ist das globale Passwort des Internet: Wer keine Arbeit hat oder arm ist, als Frau geboren wurde oder zum Beispiel auf Grönland und in Afrika lebt - der/die hat zur Zeit praktisch keine Chancen, die neuen Server mit Namen aus der männlichen europäischen Wissenschaftsgeschichte (Newton, Hobbes, Gauß), amerikanischen Comics (Mickey, Snoopy - aber auch Asterix), griechischen Mythologie, nördlichen Astronomie und Hollywood-SF-Kultur (Spock) ausstatten zu dürfen. Die Leistungsanmahnungen ans akademische Mittelklassenethos (»Wer die Netzinformation nicht nutzt, wird auf Dauer abgehängt« 1) bleiben ihr versagt. Die Einkaufszonen (Malls) des Cyberspace sind die neuen Konsumtempel weißer monokultureller Mittelklassenmänner, die Frauen müssen eigentlich leider draußen bleiben, nix Cyberspace, kein Login - die ersten Opfer der Datenautobahn. Die Netzkultur ist männlich, da gibt es keine Quote.

Dies alles nun hat sehr viel mit Hochschulpolitik zu tun. Hochschulen bilden weiterhin das Gros der Anbieter auf dem deutschen Internet. An den Hochschulen kommen täglich Dutzende oder noch mehr, niemand weiß das, neue Anbieter, also Institute, Fachbereiche, Projekte, Gruppen hinzu. An zahlreichen Hochschulen können Studierende mit der Immatrikulation eigene E-Mail-Adressen bekommen, an einigen Hochschulen haben mittlerweile mehrere Tausend Studierende Nutzergenehmigungen, können also, auf gut deutsch gesagt, zum Ortstarif stundenlang mit Kommilitonen in New York auf dem Bildschirm plaudern (was sie natürlich nicht tun sollten, aber tun) und können, wenn es die Hochschuladministrationen erlauben, mit eigenen Angeboten auf das Internet gehen. Im Unterschied zu vor etwa zwei Jahren werden sie auf dem unversitätseigenen Netz nicht nur so hochspannende Informationen wie Busfahrpläne, Sprechstundenzeiten oder ziemlich selbstreferentielle Literaturlisten der Hochschullehrer und Erklärungen zum ethischen Netzverhalten beim klammheimlichen Anwählen von immergleich drögen pornographischen Newsgruppen vorfinden. Sie werden auf dem Netz Hochschuleinrichtungen finden, die sich darum streiten, wer auf die zentrale Home-Page oder Einstiegsseite der Universität kommt, wenn möglich mit Fettdruck; mit elaborierten Benutzerführungen werden ihnen Abzweigungen, Parkplätze und Tankstellen auf der Datenautobahn empfohlen, hinter denen natürlich zunehmend hochschulpolitische Entscheidungen stehen. Und sie können schließlich die rasch aufblühende Politikkultur konsumieren, the right side of the Web etwa, beginnend mit Hunderten von WWW-Servern und Gophers aus unserer Weltmilitärordnung, von der NATO über die CIA bis zu Bundeswehruniversitäten, schon ästhetisch völlig grausam mit den immer gleichen Wappen und Abzeichen, mal tumb, mal martialisch, unterfüttert von überhaupt nicht zivilgesellschaftlichen Pages der Fans der Gewalt- und Waffenkultur. Dann die blühende religiöse Rechte: Das Verzeichnis ihrer elektronischen Präsenz auf dem Internet überschreitet ein paar Hundert Megabyte, die gut gepflegten ProLife und Anti-AbortionAngebote eingeschlossen. Und schließlich die explizit politische Arena, die von dem »Nuclear Informations WWW-Server« (»Nuke-HomePage«) oder der »Atomic-Home-Page« mit nützlichen Diagrammen zur Herstellung der Atombombe über die politisch agierenden Rüstungskonzerne a la Lookheed oder Rockwell bis zu der Propagandaseite des neuen Stars der US-Rechten Newt Gingrich reicht. The left and green side of the Web dagegen gibt es kaum, ein paar Organisationen der Friedensbewegung, keine Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung, immerhin manche Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International oder Greenpeace. Die SPD soll auf Datex-J zu finden sein, die Bündnisgrünen sind eher clever an der Oldenburger Uni auf einer Infoseite zur Forschung und Lehre untergeschlüpft, das Schmuddelkind PDS ist, was Gopher und World Wide Web angeht, offline.

Doch es geht nicht nur um die naheliegende Frage, wie diese politischen Verhältnisse etwas pluralistischer gestaltet werden können - zum Beispiel: Sind Organisationen von Hochschulangehörigen, also auch demokratische wie der BdWi, berechtigt, ihre eigenen Angebote auf Hochschulservern auf das Netz zu bringen? Dürfen eine Studentin oder ein Hochschullehrer der Politikwissenschaften davon abgehalten werden, ihren Plattenplatz auf dem Hochschulrechner, auf den sie Anspruch haben, mit forschungs- und lehrebezogenen Informationen über die Parteien der Bundesrepublik, nennen wir die SPD oder die PDS als Beispiele, zu nutzen? Informationen, die dann eben, wie es dem Charakter des Mediums entspricht, bundes- oder weltweit gelesen und/oder kopiert werden können? Das Internet bietet heute noch politische Räume, die es in anderen Medien nicht einmal ansatzweise gibt. Ist es also nicht auch an der Zeit, die zentralen hochschulinformationspolitischen Fragen zu erörtern? Die erste Zutrittsfrage - access als Recht des gleichen Zutritts zu Informationen für alle, die zweite Zutrittsfrage - access als die Architektur des Zugangs zu den (technischen) Informationsmitteln, drittens die Eigentumsfrage - property, wem gehört die Information? viertens die Privatheit - also die Sicherung der Privatheit der Kommunikation, fünftens die Frage nach der Freiheit des Schreibens, des Redens und der Verbreitung von bildlichem Material, sechstens die soziale Frage nach der Sozialstruktur der AnbieterInnen und NutzerInnen, nach der politischen Soziologie von Informationsmacht.

Hochschulen sind Einrichtungen, in denen durch Kommunikation, den Austausch von Argumenten, Wahrheit ermittelt und weitergegeben werden soll. Ohne Vorstellung davon, wie diese Kommunikation beschaffen sein soll, kommen sie nicht aus. Wir sollten uns Gedanken machen, wir sollten darüber sprechen, wie eine solche Utopie der modernen Wissenschaftskommunikation aussehen könnte. Der amerikanischen Science-fiction-Autor William Gibson, auf dessen 1987 erschienenen Roman »Neuromancer« das Wort vom Cyberspace zurückgeht, der bei ihm die negative Utopie eines virtuellen Raums ist, welcher von hyperintelligenten Rechnern multinationaler Konzerne beherrscht ist, William Gibson hat vor der amerikanischen Wissenschaftsakademie auch einige Sätze zu einer verblüffend simplen Positivutopie formuliert: »In meinem eigenen best-case-scenario«, so Gibson, »haben jede Grundschule und jeder Lehrer in den USA unbegrenzten und absolut kostenlosen beruflichen Zugang zu Telephondiensten. Alle Telephongesellschaften sollten gesetzlich verpflichtet sein, einen solchen Dienst bereitzustellen. Das würde natürlich auch für das Kabelfernsehen zutreffen. Ebenso sollte jeder Lehrer in jeder amerikanischen Schule von den Firmen auf Anfrage kostenlos mit jeglicher Software versorgt werden. Was würde uns das, als Gesellschaft, wirklich kosten? Nichts. Es würde nur einen Verlust an potentiellem Gewinn für einige der fettesten und am besten gefütterten Konzerne des Planeten bedeuten ... Oder verlangt irgend jemand jemals eine Lizenzgebühr, wenn einem Kind das Alphabet gelehrt wird?«

1 Geistesblitz im Cyber-Space. Wie elektronische Kommunikation die Wissenschaft revolutioniert. In: Bild der Wissenschaft (1995)3. S. 83.

Weiterführende Literatur:

Martin Bangemann [u. a.]: Europa und die globale Informationsgesellschaft. Empfehlungen für den Europäischen Rat. Brüssel 1994. - Jörg Becker: Der Weltmarkt für Information und Kommunikation. Von der »Informationsordnung« zur globalen »Wissensindustrie« auf Kosten der Dritten Welt. In: Widerspruch. Beiträge zur sozialistischen Politik 14(1994)28. S. 5-18. - Hans-Jürgen Bieling: Telekratische Öffentlichkeiten. In: Forum Wissenschaft 12(1995)1. S. 6-9. - Achim Bühl: Cyberspace und Virtual Reality. In: Forum Wissenschaft 12(1995)1. S. 16-19. - Weert Canzler/Sabine Helmers/Ute Hoffmann [Kulturraum Internet Wissenschaftszentrum Berlin]: Die Datenautobahn - Sinn und Unsinn einer populären Metapher. Berlin 1995. S. 95-101 (WZB Papers FS II). - Robert Darlington: The Information Superhighway: An International Trade Union Review. Prepared for the Postal, Telegraph and Telephone International by R. Darlington of the Communication Workers Union of the United Kingdom. Juni 1995. - Helmut Fangmann/Michael Schwemmle: Von der Telematik zur Medienintegration. In: Blätter für deutsche und internationale Politik 40(1995)2. S. 203-213. - Claudia von Grote/Sabine Helmers/Ute Hoffmann & Jeanette Hofman (Hrsg.): Kommunikationsnetze der Zukunft - Leitbilder und Praxis. Dokumentation einer Konferenz am 3. Juni 1994. Berlin 1994. S. 94-103 und 237-247 (WZB-Paper FS 11). - Kurt van Haaren/Detlef Hensche (Hrsg.): Multimedia. Die schöne neue Welt auf dem Prüfstand. Hamburg 1995. S. 29-42. - Doris Kretzen: Information-Highways und Hitchhiker. In: Forum Wissenschaft 11(1994)1. S. 21-25. - Herbert Kubicek: Die soziale Dimension der Neuen Medien als politische Herausforderung. In: Herbert Kubicek [u. a.]: Jahrbuch Telekommunikation und Gesellschaft 1995: Multimedia - Technik sucht Anwendung. Heidelberg 1995. - Arbeitsgruppe IG Medien/Deutsche Postgewerkschaft: Materialien zu »Multimedia«. Stuttgart 1994. - IG Medien und Deutsche Postgewerkschaft: Memorandum zur Gestaltung der Informationsgesellschaft. In: IG Medien Forum 133(1995)6. S. 11-13. - William J. Mitchell: City of Bits. MIT Press. Cambridge 1995 (als elektronischer Text vorhanden). - Howard Rheingold: The Virtual Community. Homesteading on the Electronic Frontier. Reading (Mass.) 1993. - Rainer Rilling: On the other side of the web. In: Forum Wissenschaft 12(1995)1. S. 20-23; Netz 1. In: Georg Ahrweiler (Hrsg.): Soziologische Ausfluge. Opladen 1995. - Spiros Simitis: Das scheinbar Private ist längst öffentlich. In: »Frankfurter Rundschau« vom 19. Juni 1995. S. 9

 

Texte Home 24.12.04