Rainer Rilling

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TA-Datenbank - Nachrichten 1/1997 S. 21-23

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Kongress 
"Internet und Politik"

Das Internet ist das einzige Massenmedium, das in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts neu entstanden ist. Anders als beiden klassischen Großtechnologien (Atom, Weltraum, Militär) ist seine kurze Geschichte vor allem in den Vereinigten Staaten von zahlreichen Prophezeihungen einer neuen, direkten Demokratie begleitet. An diese besondere politische Kultur versuchte der Kongreß "Internet und Politik. Die Modernisierung der Demokratie durch die elektronischen Medien" anzuknüpfen, der vom19. bis 21.2.1997 von der Akademie zum dritten Jahrtausend der Hubert-Burda-Stiftung in Zusammenarbeit mit der Bayerischen Staatskanzlei und der Europäischen Kommission im Europäischen Patentamt in München durchgeführt wurde. Das dreitägige Programm bearbeitete die Themenblöcke "Elektronische Demokratie", "Das Netzvolk zwischen Öffentlichkeit und Privatheit", "Regional-Transnational-Global", "Die Neuerfindung von Politik und Verwaltung", "Perspektiven für die vernetzte Demokratie". Die Vorbereitung der Veranstaltung schloß ein Internet-Site mit gelungen knappem Design auf dem World Wide Web ein. Die dort und im Konferenzfoyer präsentierten Materialien ("Online-Ausstellung Internet & Politik") zur Politik auf den Netzen und einschlägiger Literatur verrieten allerdings eine (ebenso mediengerecht?) eher flüchtige Kenntnis des Sujets, die merkwürdig kontrastierte zur Beratungskompetenz, derer sich die Burda-Akademie versichert hatte (u.a. Christaller, Helmers,Kubicek, Leggewie, Lovink, Mambrey, Streibl usw.). Der erfreuliche Versuch, zu den auf dem WWW präsentierten knappen Statements eine E-Mail-Diskussion zu arrangieren, wurde jedoch kaum angenommen. Das Publikum - rund 400 Teilnehmer und einige Teilnehmerinnen - akzeptierte denn auch eine dreitätige Veranstaltung, die weniger an das (interaktive) Internet als an das (distributive) Fernsehen erinnerte: einige Dutzend Referenten, keine Arbeitsgruppen, Plenumsdiskussionen, die den Teilnehmern gerade Zeit für zwei Statements ließen und eine gemeinsame Bearbeitung eines Themas ausschlossen, zahlreiche Vortragspräsentationen und kaum Chancen für das Publikum zur gründlicheren Intervention und öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Gebotenen. Eine one-to-many-Tagung.

Der Kongress war politisch interessant, wissenschaftlich weniger. Meinungen, nicht die Präsentation von Forschungsergebnissen waren angesagt. Was war das politisch Interessante an der Veranstaltung?

Zunächst das Thema "Internet und Politik". Nach dem Hamburger Kongreß "Informationsgesellschaft * Medien * Demokratie" vom Januar 1995 war dies der zweite große Kongreß in der Bundesrepublik, bei dem es nicht um Multimedia, Netz- und Medientechnik oder kommerzielle Fragen, sondern um Politik ging. Im Unterschied zu der Hamburger Veranstaltung zielte die Münchner Konferenz auf den etablierten mittleren und unteren Verwaltungs-, Politik-, Organisations- (bzw. NGO) und Medienbereich (und das Bitbusiness, das nicht kam). Der Kongreß wendete sich weder an die Entwickler und Ingenieure der neuen Technik noch an die selbstorganisierte Grassroots-Bewegung und Internet-Aktivistenszene. In diesen Sektor sickert seit etwa zwei Jahren das Netz als politisches Medium sukzessiv ein. Die hauptsächliche Intention der Tagung war wohl, hier das Netzmedium kulturell weiter zu verankern. Als Vehikel dafür dienten die rund 60 % Redner aus dem anglo- bzw. vor allem US-amerikanischen Raum, die realistisch oder enthusiastisch, kritisch oder libertär, sozialreaktionär oder utopisch Erfahrungen und Meinungen präsentierten. Offen ist, ob dieser Versuch gelang - die Resonanz in der Öffentlichkeit war angesichts der mittlerweile deutlich verflogenen naiven Internetbegeisterung nicht groß, aber vorhanden (s. Anm. 1). So bemerkenswert daher die für die BRD in dieser Zahl und Dichte erstmalige Präsenz prominenter und häufig qualifizierter US-Vertreter war, sowenig verständlich ist, warum offenbar kaum versucht wurde, die Initiatoren und Macher politischer Netzmedien, -projekte und -kommunikation aus der Bundesrepublik in relevanter Weise in die Tagung einzubeziehen. Jene, die da waren, wie (natürlich!) etwa SPD-MdB Jörg Tauss (Karlsruhe) als der ideelle Gesamtnetzpolitiker, oder Ulrich Tichy (Tübingen), der den bislang besten bundesdeutschen gewerkschaftlichen WWW-Site im Alleingang aufgebaut hat, kamen nur peripher zu Wort. Vollends fragwürdig war der fast vollständige Verzicht auf jene, die hierzulande wissenschaftlich zum Thema arbeiten bzw. deren Profession es ist, sich politikwissenschaftlich und -theoretisch mit dem Demokratieproblem zu befassen oder die mit den Mitteln der Wissenschafts- bzw. Technikforschung sich dem Sujet der Tagung hätten nähern können.

So lief der Grundansatz der Tagung auf eine Verallgemeinerung des US-amerikanischen Modells der Internetkultur und auf ein Demokratieverständnis hinaus, das - gemessen am US-Mainstream - zwar sicherlich linksliberal und libertär akzentuiert war, aber z.B. kommunitaristische Ansätze ignorierte und die aktuelle europäische wie bundesrepublikanische Demokratiediskussion kaum berücksichtigte. Wenn es stimmt, daß der "europäische Weg in die Informationsgesellschaft" ein Top-Down-Approach, der US-amerikanische dagegen ein Bottom-Up-Approach ist, dann müßten auf einer solchen Veranstaltung nicht bloß der amerikanische Weg, sondern auch jene wenigen, aber beispielhaften und durchaus existierendeneuropäischen "Bottom-Up-Projekte" vorgeführt werden, die demokratiepolitisch weitere Perspektiven eröffnen. Nicht zuletzt weil in den USA, wie in München einzig von Andreas Gross aus der Schweiz en passant erwähnt wurde, kein Mechanismus zur Entscheidungsintervention auf nationaler Ebene (Volksabstimmungen, Referenden) existiert (eben durchaus im Unterschied zu wichtigen Demokratietraditionen in Europa) und die mit zum Teil überschießender Naivität präsentierten Teledemocracy-Beispiele lokal oder regional begrenzt sind. Zu dieser Problematik gehört auch, daß nur in drei US-Beiträgen das Verhältnis von politischer Demokratie und Sozialstaat (nicht: sozialer Demokratie!) aufgeworfen wurde und, diesem Tagungsansatz folgend, auch die anderen Redner diese Frage fast durchgängig ignorierten. Die in den traditionellen libertären Ansätzen gefeierte und auf der Tagung von Esther Dyson (New York) präsentierte These von der politischen Ermächtigung (Empowerment) des Individuums durch das Netz impliziert ja die Behauptung, daß die elektronischen Medien zu einer Entwertung der intermediären Organisationen wie etwa den Gewerkschaften führten, die allerdings eine zentrale Rolle für die Etablierung eines europäischen Sozialstaats gespielt haben. In einem wie auch immer zu denkenden europäischen Netzprojekt müßten diese Organisationen und ihr sozialstaatlicher Kontext eine Schlüsselrolle spielen - auf der Konferenz dagegen spielte ein solcher Ansatz keine Rolle. Soweit spiegelte sie die soziale Natur des Internet getreulich wider: eine Veranstaltung des, zumeist staatlich alimentierten, männlichen Teils der weißen Mittel- und Oberklasse des industriellen Nordens zu sein, für den die Sozialstaatsfrage (noch) keine primäre Frage ist.

In der Politik geht es um Macht, die durch Entscheidungen um- und neuverteilt wird. Wohin wird sie verteilt? Wer verteilt? Welche Rolle spielen die Netze dabei? Sind sie ein Medium oder Ort politischer Entscheidungen und/oder des Diskurses, der Deliberation? Welche Ergebnisse empirischer Forschungen liegen dazu vor? Wie wird Politik in der sozialwissenschaftlichen Analyse elektronischer Medien konzipiert und gedeutet? Nur wenige Referenten rissen diese Fragen an - etwa Caus Leggewie( Gießen/New York), Douglas Schuler (Seattle), Benjamin Barber (New Brunswick) oder Stefan Müller-Dohm (Oldenburg). Wo -wie von Grossman, Gross oder Christa Slaton (Auburn) - das Internet als Instrument demokratischer Wahlen diskutiert wurde, gab es meist ein undifferenziertes Lob der Beschleunigung: "To vote online means to vote more often" (Grossman).Nur Barber setzte sich von dieser Tempofreude ab: "Computers are fast as light and work in a binary code. There are only two possibilities: yes or no. Democracy on the other side is very slow and works in a dialectical way." Ob die Wahl auch die Bildung und Durchsetzung individueller und gemeinschaftlicher Interessen fördert, wurde nicht erörtert. Schließlich waren auch die politischen Implikationen der organisations- und institutionsinternen elektronischen Vernetzung (Intranets) an keiner Stelle der Tagung Diskussionsgegenstand.

Daß derlei Fragen niemand systematisch behandelte, ist sicherlich ein Indiz für den bisherigen Stand der sozial- und politikwissenschaftlichen Erforschung des Internets. Die Einschätzungsunsicherheiten waren groß. Während etwa Daniel J.Weitzner vom Washingtoner Center for Democracy and Technology die Entwertung der "Gatekeeper" als substantielldemokratisierenden Effekt der Netzkommunikation wertete, plädierte Barber entschieden für die Etablierung neue rAutoritätsinstanzen auf dem Netz, die moderieren, editieren und erziehen sollten, um dem Netzvolk die Orientierung zu ermöglichen. Zwar waren einigen Referenten weitreichende Mutmaßungen über Teilhabe (Empowerment) nicht fremd (beachtlich Lawrence Grossman's (New York) Gruselbeispiel: "Press One for "war", press Two for "no war", press Three for "targets"), doch das Gros der Beiträge folgte der Annahme, daß das Internet nur einen moderaten Veränderungseffekt auf das politische System haben werde. Von wenig Kenntnis zeugende Behauptungen wie die des ARD-Moderators Martin Schulze (Bonn), die Geiselnahme in Lima und die Demonstrationen in Belgrad hätte es ohne Internet nicht gegeben, waren die Ausnahme. Abgesehen von Joachim Jens Hesse (Berlin/Oxford), der Politikmüdigkeit auf zuviel Partizipationsangebote zurückführte und daher einem partizipativ-interaktiven Medium nichts abgewinnen konnte, wurde diese Veränderung positiv als potentiell demokratisierender Effekt angesehen. Dementsprechend die moderaten, immer wiederkehrenden Forderungen (Leggewie: "etwas mehr direkte Beteiligung").

Die hochrangigen deutschen Wirtschaftsvertreter Horst Teltschik (BMW, München), Klaus Mangold (debis AG, Berlin) oder Friedrich Fröschl (Siemens, München) verfehlten das Thema: sie sprachen über Wirtschaft. Eine beeindruckende Gegenrede auch hierzu bot demgegenüber der betagte Herbert Schiller (San Diego), der mit historischer Referenz auf die Entwicklungsgeschichte des Radios und Fernsehens prognostizierte, daß nicht die partizipative Informationsgesellschaft, sondern die von raffinierter Feedback-Kultur geprägte Marketinggesellschaft eine Zukunft sei, deren Eintrittswahrscheinlichkeit durch das Internet außerordentlich gesteigert werde. Auch Barber war dieses Entwicklungsszenario nicht fremd: "There will only be a virtual one way communication: we sell, and you buy." Wie Andrew Graham (Oxford) plädierte Schiller für die entgegengesetzten öffentlichen Kommunikationsräume und staatliche Intervention, um ihren Aufbau und ihre Weiterexistenz zu sichern. Unverschämte Interventionen ("Das Publikum liebt sie, egal was sie sagen") des Moderators Josef Joffe (Süddeutsche Zeitung) brachten die Zuhörerschaft von ihrer überraschend positiven Resonanz auf Schillers Vortrag nicht ab. Sie war nochmals Indiz für das politische Projekt, das der Tagung zugrunde lag: einen sich neu abzeichnenden Modustechnischer Gesellschaftsintegration durch die Netze für politische Integration zu instrumentalisieren. Ein Kongreß, der mit einem Grußwort des bayerischen Ministerpräsidenten Edmund Stoiber (München) begann, welcher "den sekundenschnellen Austausch kriminaltechnischer Daten", die "Online-Übertragung von Bildern, Fingerabdrücken oder Fahndungsgegenständen"und die Etablierung seines Internetkommissariats feierte, das "anlaßunabhängig im Netz patrouilliert und dort schwerpunktmäßig nach jugendgefährdenden Angeboten fahndet" und der zugleich Schillers Angriff auf die Industriemacht über die alten und neuen Medien Raum bot, war sicherlich gelungen. Er könnte die Abschlußveranstaltung der politischen Normalisierung einer Technikkonfiguration sein, die in ihrer kurzen Geschichte erstaunlich viele Transformationen durchlaufen hat.

 

Anmerkung

1.Siehe etwa FR v. 27.2.1997, FAZ vom 24.2.97 oder auf dem Netz die ausführliche Hausberichterstattung von www.focus.de,  Ulrich Booms: Internet und Politik, www.spiegel.de/97/10/sonv01.html (hier auch Interviews mit Schiller und Cailliau) und  Tagungsberichte von Stefan Krempl (http://viadrina.euv-frankfurt-o.de/_sk/IN_  und_Politik/introfr.html), Christoph Bieber  (http://www. uni-giessen.de/fb03/vinci/labore/ netz/muenchen.htm) und Michael Scheuch (http://  members.aol.com/Edemokrat/ index.htm), schließlich am informativsten die kritische kongressbegleitende Berichterstattung  von telepolis (http://www.heise.de/ tp/fpol.htm).

24.12.04