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Rainer Rilling

Dieser Beitrag ist eine erweitere und aktualisierte Fassung eines Vortrags, der am am 6.12.1997 in der Evangelischen Akademie Loccum gehalten wurde.

Politische Netzkommunikation und Entscheidung
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Politik bezeichnet im Unterschied zur Privatsphäre den öffentlichen Raum, in dem diskursiv oder gewaltsam unterschiedliche indivduelle und gesellschaftliche Interessen ausgefochten werden. Politische Institutionen und Normensysteme dienen dazu, verbindliche Regeln, Werte und Steuerungsleistungen für die Gesellschaft autoritativ über Entscheidungen zu organisieren - Regeln, die angesichts der ungleichen Verteilung von Macht, Autorität und Reichtum in der Gesellschaft zugleich Formen der Herrschaftssicherung sind. Die moderne Demokratie als Organisationsform der politischen, öffentlichen Gewalt beruht auf der Gleichheitsannahme, wonach alle Menschen in gewissem Maß gleich sind und deshalb alle in gewissem Maß als politisch gleiche behandelt werden sollten sowie auf den Prinzipien der Volkssouveränität und des Relativismus, d.h. der Mandatierung auf Zeit und dem Verzicht auf Wahrheitsanspruch (Saward, 1994, S.6ff.; Deppe, 1997, 128). Aus der Gleichheitsannahme ergibt sich, dass politisches Handeln mit den Präferenzen der Mehrheit korrespondieren muss, womit korrelieren kann, dass auch politische Entscheidungen nach dem Mehrheitsprinzip getroffen werden. Die "härteste" demokratietheoretische Frage für eine politische Soziologie des Internet ist, ob dieses im Kontext der repräsentativen Demokratie politische Gleichheit fördert und substantiell zur Konstitution einer allgemeinen Öffentlichkeit und eines allgemeinen Willens beitragen kann - oder ob das Netz für die verbreitete Vermutung einsteht, angesichts der funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft in Subsysteme mit eigenen nicht transferierbaren Kommunikationsmedien sei die Vorstellung eines die Einzelsysteme übergreifenden Selbstbezugs auf einen über politische Öffentlichkeit vermittelten und gesellschaftlich implementierbaren Allgemeinwillen unangebracht. In diesem Fall löst sich der Zusammenhang von allgemeinem politischen Willen und Entscheidung auf und der Weg ist frei für Variationen einer "postrepräsentativen Theorie des politischen Systems" (Zolo, 1997, S.11).

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Entsprechend wird die Gleichheitsannahme unterschiedlich operationalisiert. Wird bei der Analyse der politischen Soziologie der Netze (bzw. bei der Frage nach der Entwicklung politischer Gleichheit im oftmals behaupteten informationsgesellschaftlichen Transformationsprozess) ein (wie auch immer genauer zu bestimmender) Zusammenhang von politischer und anderer (ökonomischer, kultureller, sozialer etc.) Ungleichheit zugelassen - dabei geht es etwa um die Basisressourcen (Energie, Telephon usw.), die geographischen Verteilung der Standorte der Netzwerkcomputer weltweit und innergesellschaftlich, um das Eigentum an Übertragungsnetzen, Servern, Operationssystemen, Routern usw., um die institutionellen Arragements der Netze, um die Geschlechter-, Sozial- und Qualifikationsstruktur der NetznutzerInnen und individuellen Providern, um die technische, kulturelle, soziale und kommunikative Kompetenz und die Beherrschung der englischen Sprache oder um die Zeichenausstattung, d.h. die Namensgebung und ihre Beziehung zu Realnamen bzw. am Eigentum (Copyright) am Content: Bilder, Texte, Zeichen sind bekanntlich nicht frei, sondern in Eigentumsverhältnisse verwickelt, die sich auch auf dem Netz reproduzieren - dann ist in der verbreiteten Diskussion dieser einzelnen Dimensionen der Ungleichheit zu fragen, ob die daraus sich ergebende ungleiche Verteilung zur Bildung und Realisierung eines politischen Willens nicht nur im politischen Prozess empirisch nachweisbar ist. Fraglich ist auch die möglicherweise transitorischen Natur dieser Verteilung. Wie also werden sich in einem informationsgesellschaftlichen Transformationsprozess diese Strukturen von Ungleichheit entwickeln? Nimmt die Spannweite der Ungleichverteilungen ab oder vergrößert sie sich? Überlebt der Sozialstaat die Informationsgesellschaft? Wenn es richtig ist, dass die Demokratie vom Prinzip der staatsbürgerlichen Gleichheit ausgeht, der marktvermittelte Wettbewerb dagegen dem Prinzip der Konstruktion von Ungleichheit folgt (im Sozialraum wie in der Zeit - die Wettbewerbsspanne ihres Nachrichtendienstes charakterisieren Reuters-Wirtschaftsjournalisten auf ca. sechs Sekunden) - ist der prozessierende Widerspruch Beider die entscheidende zukünftige Bewegungsform des Verhältnisses von Politik und Netz.

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Das Netz prozessiert private wie öffentliche Kommunikation. Empirisches Wissen über - auch politische - Netzöffentlichkeit liegt bisher kaum vor. Zum Beispiel ist unbekannt, welche politischen WWW-Sites von wem, zu welchem Zweck, wie lange, unter welchen Bedingungen und mit welchen Folgen besucht werden. Wo überall wer in welchen Rollen agiert, ist unbekannt, erst recht, wenn es um Individualkommunikation wie E-Mail geht. Ein minimaler Teil der öffentlichen Netzkommunikation hat explizit politische Angelegenheiten zum Gegenstand oder geschieht in / aus politischen Institutionen: der Anteil der entsprechenden Newsgroups, Mailinglisten oder WWW-Sites liegt - den militärischen Bereich ausgeklammert - mit einiger Sicherheit unter 1 %; absolut wächst er bemerkenswert - so hat sich etwa die Anzahl der Sites zu "Government" oder "Staat und Politik" bei yahoo.com und yahoo.de zwischen November 1996 und November 1997 verdoppelt. Die Anzahl der politischen WWW-Sites in der Bundesrepublik liegt gleichwohl noch im dreistelligen Bereich (Rilling, 1997).

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Da Politik über das assymetrische Verhältnis Macht / Unterordnung bearbeitet wird, ist die Frage nach der Topologie der Macht sinnvoll, wenn die Struktur des politischen Raums geklärt werden soll. Wie also kann eine Vorstellung vom politischen Raum gewonnen werden? Inwieweit helfen hier Aussagen über den Grad der Sichtbarkeit politischer Orte, der üblicherweise durch die Menge der Zugriffe auf Sites quantifiziert wird? Spezialisierte politische Netzangebote oder die Netzangebote staatlicher Stellen und politischer Organisationen werden - in Grenzen - wahrgenommen, die entsprechenden monatlichen Zugriffszahlen etwa der Parteien in der Bundesrepublik Deutschland werden für 1997 mit 31 000 (Grüne/Bündnis 90) bis 350 000 (CDU) angegeben. Es kann jedoch angenommen werden, dass solche Frequenzen wenig beeindruckend sind. Dafür spricht, dass in den Ranglisten verbreiteter Spezialverzeichnisse, die Häufigkeiten der Zugriffe auf Netzangebote dokumentieren, die politische Industrie nicht vorkommt (vgl. die Verzeichnisse Web-Counter Top 100 List (URL: www.digits.com/top), Webhits (URL: www.b-online.de/webhits/)und 100hot Websites (URL: www.100hot.com) sowie die Zusammenstellung der am häufigsten eingegebenen Suchbegriffe der Kolibri-Suchmaschine). Während im Sommer 1997 www.bundespraesident.de wöchentlich 800-1000 Besuche aufzuweisen hatte, hat Beth Mansfield`s Site "Persian Kitty`s Adult Links" 425000 Besuche am Tag. Eine qualitative Charakteristik der Zugriffe - wer ist es, der sich da - wie lange eigentlich? - politisch einklickt, zugreift, kopiert, transferiert und vielleicht sogar liest - ist für den Bereich der politischen Kommunikation nicht bekannt, sieht man von einigen Daten zur Domänenherkunft der Zugriffe ab.

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Ein weiterer Indikator für Sichtbarkeit ist die das WWW auszeichnende Eigenschaft der Hypertext- bzw. Verweistruktur. Links stehen für diskursive Strategien. Sie determinieren mögliche Kontexte von Kommunikationen - das ist, wie Derrida bemerkte, immer etwas Politisches - oder wie Luhmann entwickelte, Macht. Links strukturieren die Verteilung von Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit und schließlich Anerkennung - zum Beispiel für ein inhaltliches Angebot - im Informationsraum. Netzreputation - oder soziales Netzkapital - entsteht durch kompetente (d.h. Wissen über den Inhalt des Informationsraums anzeigende) Verweise auf andere/s und Verweise anderer auf sich selbst. Trifft daher zu, dass wer anerkannt ist, im Informationsraum - indiziert durch das Verweissystem - tendentiell eine zentrale Position einnimmt, Reputation Zentralität schafft und Zentralität Reputation generiert? Lässt sich daher die Positionierung der politischen Sites im Informationsraum auch durch eine Rekonstruktion des Verweissystems ermitteln? Hier würde also nicht die Netzpraxis der Medienkonsumenten (Zugriffe) sichtbar, sondern Prioritätensetzungen durch jene, die selbst durch die Einrichtung von Webseiten aktiv als Medienproduzenten tätig sind, werden durch die Verweise deutlich, die sie einrichten. Die Positionierung der politischen Sites im Informationsraum lässt sich daher auch durch eine Rekonstruktion des Verweissystems ermitteln. Ein solches Verfahren wirft zahlreiche methodische Probleme auf und ist bislang kaum versucht worden. (Larson, R.R.,1996) Einer Recherche mithilfe der Suchmaschine Infoseek (Ultraseek) am 8. Februar 1997 zeigte, daß * auch auf die "sichtbarsten" bundesdeutschen politische WWW-Sites zehn bis zwanzig Mal weniger verwiesen als auf die vergleichbaren politischen Sites in den USA * die deutschen politischen Netzprojekte weit schwächer als die ökonomischen und netzbezogenen (Medien, Softwareanbieter, Suchhilfen) Sites verlinkt sind * ressourcenstarke institutionelle Anbieter (Staat, Parteien), die zumeist erst seit 1994/5 auf dem Netz präsent sind, in kurzer Zeit sich zentral positionieren konnten - dieser Prozess hat sich mittlerweile fortgesetzt * gesellschaftliche Organisationen wie die Gewerkschaften oder Umweltverbände demgegenüber (wie auch gegenüber der in kurzer Zeit installierten, nur zum Teil professionellen Netzpräsenz der Wirtschaft und ihrer Verbände wie z.B. dem DIHT) eine deutlich nachrangige oder praktisch keine Rolle spielen * jedoch einzelne ressourcenschwache Anbieter durch frühzeitige Präsenz, inhaltlich kompetente bzw. konkurrenzlose Initiativangebote (z.B. GEW Baden-Württemberg [U. Tichy], HBV-Projekte [W. Hölzer], IG Metall, NADIR) oder aktive Vernetzungspolitik (z .B. BASIN als Vernetzungsprojekt der Studierenden) eine relativ hohe Sichtbarkeit erreichen können; hier zeigen sich noch haltbare Konturen einer konkurrierenden Netzöffentlichkeit.

Die politisch bedeutungsvolle, weil zentrumsfavorisierende technische Logik des Hyptertextmechanismus wird im übrigen durch die spezielle Funktionsweise der mittlerweile etablierten Suchmaschinen massiv gestützt. Es existiert somit eine neue politische Topologie, in deren Zentrum zwei Akteure stehen:

* große Medien - Inhaltsanbieter (Content-Provider) stehen, die Politik als mitlaufendes aktuelles Infotainment verkaufen - Frohsinnsprovider mit sozialverträglichen Bildern und Audiorauschen * kapitalstarke politische Netzunternehmer, die imstande sind, große zentralisierte Netzwerke mit schwachen Bindungen ("weak publics") zu organisieren. Nur sie sind imstande, die großen Mengen an Daten über Menschen und deren Eigenschaften, Interessen und Interaktionen zu bearbeiten (und zu kontrollieren), die das Internet bereitstellt. Und nur sie können Netzinteraktivität in massenpolitisch handhabbare zielgruppen- und zielpersonspezifische Feedbacks umwandeln und im übrigen die Installierung solcher Feedbackmechanismen als politische Partizipation inszenieren. Diese virtuellen politischen Netzunternehmer sind fast völlig identisch mit den handlungsfähigen politischen Unternehmern in real life, also staatliche Einrichtungen, Parteien, Großorganisationen. Das 1996/7 sichtbar werdende rasche Wachstum der netzpolitischen (zum Teil aber noch ehrenamtliche) Investitionen insbesondere der Parteien (wohl vor allem CDU, S ebenso PD, PDS), das den Aufbau organisationsinterner Intranets einschließt, steht dafür wie der rasche Ausbau der paralmentarischen Netzangebote. Aktivbürger und marginalisierte politische Akteure, die sich die Kosten- und Verbreitungsvorteile des Netzes nischenpolitisch für Spezialöffentlichkeiten zunutze machen können, stehen nicht im Zentrum der Linkstruktur. Ihre Sichtbarkeit und ihre Kapazität zur Erhebung und Verarbeitung politischer Daten sind weitaus geringer.

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Es fragt sich, ob diese assymmetrische Kommunikationstopologie zugleich für eine Verteilung der Möglichkeiten steht, nicht nur politische Aufmerksamkeit zu steuern, sondern auch Entscheidungsprozesse zu arrangieren, die den Kontext der Kommunikationen fixieren können, also politische Machtverhältnisse realisieren. Gefragt ist nach der Umsetzung kommunikativer in administrative Macht. Zur Diskussion dieser Frage wäre nicht mehr vom Medium (und der über sie vermittelten Kommunikation) zu reden, sondern vom Informationsraum (vgl. Boes, 1996/7). Der Informationsraum - oder der Cyberspace - sei eine "nie-endende weltweite Unterhaltung" schrieb der Federal Court im amerikanischen Philadelphia in seinem Urteil zum Communications Decency Act vom Juni 1996. Die öffentliche Rede als konstituierendes Element der bürgerlichen Öffentlichkeit ist nun kein Selbstzweck, sondern substantielle Begründung von Volkssouveränität. Es geht darum, "daß die unbehinderte Rede der Bürger von sich aus zu einem Verfahren finde, zu einem Prozeß. Der Prozeß, in dem sich die Vernünftigkeit des Streites immer deutlicher offenbare, dränge am Ende zum Urteil, zur Entscheidung, in der sich die volonté générale herstellen müsse. Öffentlichkeit wird also dazu gebraucht, die vagen und vorurteilsvollen Meinungen der Privatleute zum Beschluß, zum Gesetz zu führen...Dieser Zweck," kritisierte Claus Koch, "steht gerade nicht dem Internet eingeschrieben." (Koch, 1996, S. 160). Wieso ist im Informationsraum die Bildung eines allgemeinen Willens, seine Äußerung in einer Entscheidung und deren Durchsetzung nicht möglich? Wie soll denn die politische Ordnung und die Ordnung der Politik im Cyberspace entstehen? Wie also funktioniert Politik im Cyberspace, wo, wer sich dort bewegt, ununterbrochen die widersprüchliche Doppelerfahrung der Grenzenlosigkeit und der ständigen Präsenz von Grenzziehungen und fragmentierten Öffentlichkeiten macht? Überlebt die Politik die Grenzenlosigkeit des neuen Informationsraums?

Im Cyberspace gibt es Grenzziehungen, die im Vergleich zur realen Welt ganz unschwer gezogen werden können: durch Namensgebung (Domain-System) und Clusterbildung von Adressen, spezielle Paßwörter, Eintrittsgebühren oder, vor allem, Softwareprotokolle ("Das Internet ist Software" - Ethan Katsh). Die Ziehung von Grenzen ist ein grundlegender politischer Vorgang - für Danilon Zolo ist sie der ""politische Urmechanismus, der Sicherheit produziert, indem er die Komplexität der Umwelt reduziert", was geschieht durch die "Festlegung einer internen / externen Trennungslinie." (Zolo, 1997, S.66)

"Das" Internet besitzt "kein Konzept des "öffentlichen Raums", obwohl es ein starkes Gefühl für Gemeinschaft besitzt. Anders als die Straße, die von allen als etwas Gemeinsames angesehen wird, gehört jedes Stück virtuellen Bodens im Cyberspace jemandem und jeder Eigentümer nutzt sein Recht, um von Besuchern eine Identifikation zu verlangen." (Thompson, 1995, S.21). Daraus ergibt sich, daß Inhalte oder Verhaltensweisen, die in einem Informationsraum akzeptiert und möglich sind, im nächsten nicht gelten. Doch die Grenzen in dieser "unermeßlichen Immobilie" (Wesemann) sind durchlässig, umgehbar, zeitweilig - also relativ (s. Kahin, 1997). Entscheidungen, die Machtverhältnisse in einem gegebenen Informationsraum regulieren, kann sich der Netizen mehr oder weniger entziehen, indem

* er schweigt, * eine neue Identität annimmt, * sich anonymisiert * einen neuen Informationsraum nach seinem Gusto aufmacht * oder den virtuellen Raum verläßt.

Eintritttskosten und Austrittskosten sind gering. Während in der wirklichen Staatenwelt die Realisierung politischer Zielsetzungen wie auch die Rechtsdurchsetzung letztendlich auf die Fähigkeit zur Ausübung physischer Gewalt bauen können, ist im Informationsraum die Durchsetzungsfähigkeit, also Gültigkeit der Regeln und Normierungen auf Zustimmung angewiesen; sie kann nicht mit Zwang sanktioniert werden. Sanktionen verbleiben symbolisch. Es ist also sehr zweifelhaft, daß der Netzraum ein Platz für zwingend folgenreiche Entscheidungen ist, denen sich die Betroffenen nicht entziehen können: "Abwanderung" (Hirschman), Exit ist möglich, das Netz hat - im Unterschied zum realen Staat - immer einen Ausgang. Das Problem des politischen Informationsraums ist nicht das (fehlende?) Zentrum, von dem Ordnungsleistungen ausgehen, sondern das Problem der Grenzen. Natürlich findet im Netz durchaus Politik statt. Politische Anbieter, Mailing-Listen, Sites, Chats, Zensur, Allianzen, Aktionen, Unterschriftenlisten, Petitionen, Wahlen usw. - alles ist zu finden und noch viel mehr. Doch das alles hat mit Kampf um Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit, mit politischer Meinungs- und Willensbildung - also auch mit Entscheidungsvorbereitung oder -konfiguration zu tun. Nicht aber mit Wahl, Entscheidungsfällung und wenig mit ihrer Implementierung. Netze sind keineswegs "Orte der Entscheidung" (Loovink, Schultz, 1996, S.6), sondern Heimstätten einer unendlichen Menge konsensfester Wohlfühlkleingruppen, zwischen denen dissentierende Netzwanderer surfen (Rilling, 1997).

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Wenn Politik das Treffen kollektiv verbindlicher Entscheidungen meint, welche die Verhältnisse grosser gesellschaftlicher Gruppen zueinander beeinflussen, dann ist das Internet als Medium für oder Raum von Entscheidungen untauglich, denn es existieren drei Grundprobleme.

A) Das prinzipielle Repräsentationsproblem. Wie soll angesichts der in die Technik des Netzes eingeschriebenen praktischen Grenzenlosigkeit eine gültige Konstruktion von netzeigener, virtueller Allgemeinheit erfolgen? Wie lässt sich dann noch Repräsentativität konstruieren, die allein eine legitime Zurechnung von Verantwortlichkeit für Entscheidungsfolgen ermöglicht? Jenseits des Informationsraums läßt sich von einer substantiellen, elektronisch vermittelten Demokratisierung des politischen Systems einer zukünftigen Informationsgesellschaft erst dann sprechen, wenn die staatsbürgerlichen Entscheidungsprozesse (Wahl, Abstimmungen) über Personen und Sachen tangiert werden. Die normativen Anforderungen an solche Prozesse sind durchaus technisch umsetzbar. amit solche Entscheidungsakte nicht nur direkt, frei und geheim, sondern auch gleich und allgemein vor sich gehen, müssen alle Wahl- und Abstimmungsberechtigten eine entsprechende elektronische Infrastruktur zur Verfügung haben (Universaldienst) und mit ihr umgehen können (Zugangs- und Verschaffungsrecht für elektronische Informationen und Qualifikation). Weder die bundesdeutschen Regierungskonzepte noch die EG-Programmpapiere und Planungen zur Informationsgesellschaft entwickeln Utopien oder Szenarien einer technikgestützten politischen Demokratie der zukünftigen Informationsgesellschaft. B) Das ebenfalls prinzipielle Implementationsproblem. Wie können Entscheidungen verbindlich durchgesetzt werden ("Exit" ist möglich)? Für beide Problemdimensionen steht der evidenten Tatbestand der durch kein Verzeichnis, keinen Agenten und keine Suchmaschine fassbare Gruppendifferenzierung des Netzes, die als praktische, also politische Einheit nicht zu behandeln ist. C) Das pragmatische Prozeduralisierungsproblem. Ist das "exzessive Handeln", die "dauernde Direktheit", die ein Medium verlangt, das Realzeitpolitik ermöglicht und damit auch erfordert, ist ein realistisches massendemokratisches Praxiskonzept? Ist es technisch realisierbar? Wenn durch elektronische Medien in politische Prozesse - etwa in das Verwaltungshandeln - eingegriffen werden werden soll, dann zeigt die aktuelle Situation sehr deutlich, welche Probleme hier existieren. Betrachtet man den ja noch am ehesten infrage kommenden Bereich - die Kommunen - dann zeigt sich, dass bislang hier fast ausschließlich Informationssysteme existieren, die Orientierungs- und Strukturinformationen zum Abruf bereitstellen. Die nächste Ebene, die Verwandlung des Informations- in ein Kommunikationssystem etwa durch systematische Austattung der Verwaltungsangehörigen oder politischen Akteure insgesamt mit E-Mail-Adressen steckt noch in den Anfängen. Das nächste Niveau, ein einfaches Dienstleistungssystem, das durch Formulareinrichung Transaktionen ermöglicht, ist kaum vorhanden. In Bürgerbüros - One Stop Shops - sind Anfänge dieser komplexen Dienstleistungsfunktionen realisiert. Die folgende Stufe, die Dienstleistung und Information verkoppelt, indem der Bearbeitungsprozess von Daten verfolgt wird (das Tracking) existiert nirgend, erst recht die entwickeltste Stufe, ein synchrones Dienstleistungssystem, welches durch Telekooperation ein gemeinsames Bearbeiten von Daten ermöglicht und damit Netze und Gruppenarbeitsysteme zusammenbringt. Da es sich beim politischen wie auch bei einem grossen Teil des verwaltungsförmigen Handelns um schwach strukturierte Prozesse handelt, ist eine Informatisierung dieser Strukturen ohnehin auch technisch äußerst schwierig.

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Insofern gibt es Gründe für die Annahme, dass das Netz den Kern der Politik nicht so recht trifft. Aber wenn die Stichworte nicht "das Netz", sondern "die Netze" oder "die Gruppen" und nicht "Entscheidung" sondern "Governance", "Deliberation", "Diskussion" oder auch "Diskurs" sind, dann zeigen sich auch Stärken des Mediums Netz. Das Netz ist kein Ort allgemeiner demokratischer politischer Entscheidungen, aber ein Ort der vielfältigen Kommunikation, ohne die Entscheidungen undemokratisch und ineffektiv sind. Das Netz kann als Raum der zweckgerichteten, nämlich entscheidungsvorbereitenden interaktiven Kommunikation zur Interessenrepräsentation genutzt werden. In dieser Funktion wird es offenbar auch entwickelt: der Aufbau netzgestützter Kommunikation konzentriert sich hierzulande auf Elitenkommunikation.

1. die z.B. in der Technikfolgenabschätzung (vgl. van den Daele, Neidhardt, 1996, S.9ff.) praktizierten Verfahren der Mediation oder des Diskurses stellen, im ersten Fall, auf mehr oder weniger weitreichende Kompensation von Ungleichheit bzw., im zweiten Fall, auf die Herausarbeitung themenzentrierter Kommunikation ab. CMC oder Netzkommunikation nun ermöglicht und erzwingt, in gewissem Umfang von sozialen Merkmalen der Kommunikationspartner abzusehen und befördert insofern das Gleichheitsmoment in Deliberation und Diskurs; dass die CMC dennoch sozioökonomische und -kulturelle Strukturen partiell reproduziert und neue Sozialstrukturen schafft - vor allem: Grenzziehungen und Idenditätsbildungen - muss gleichwohl festgehalten werden. Auch netzvermittelte Kommunikationsverhältnisse haben mit den Problemen realweltlicher Ungleichheit zu tun: der Mann oder die Frau brauchen Strom und Telephon und Maschinen mit Zugängen zu Bandbreiten bzw. hohen Übertragungsgeschwindigkeiten, technische, kulturelle, soziale und kommunikative Kompetenz und, in der Regel, die Fähigkeit, an englischsprachiger Kommunikation teilzuhaben.

2. "Woher soll ich denn wissen, was ich denke, bevor ich nicht höre, was ich sage" - diesen fabelhaften Satz sprach Robert Mitchum in "Spiel zu zweit". Die Multimedialität, das Hören, Sehen, Schreiben und Sagen der Netzkommunikation ist zweifellos eine Eigenschaft, die dazu beitragen kann, ein notorisches Problem der Demokratie zu mildern: die Präsenz des Expertenwissens. Da durch Digitalisierung bislang aufwendig auf verschiedene Medien verteilte Text-, Bild-, Video-, Sprach- und Datenkommunikationen effizient und relativ raum- und zeitunabhängig in einem "Monomedium" (Recke) zusammengefasst werden können, erweitern sich die individuellen Handlungsspielräume.

3. Hierzu gehört ergänzend, dass das geräumige Medium Netz die geradezu schrankenlose Vorratshaltung von Wissen begünstigt. Die leichte Zugänglichkeit zu lokal verfügbarer Datenverarbeitung und dezentralisierten Datenbeständen senkt die Zugangsschwellen für Informationen, wodurch die verfügbare politische Information rapide zunimmt; die Bereitstellung, Verteilung und Aufnahme politischer Informationen wird außerordentlich beschleunigt, die Selektivität bei der Nutzung und Verteilung politischer Informationen wird erhöht; es wird möglich, Expertenwissen zu pluralisieren und zu kritisieren; die Aufgabe von Moderatoren oder der in solche Prozesse der Technikabschätzung einbezogenen Experten verändert sich: sie müssen und können, ausschließlich oder ergänzend, vielleicht kommentierend, Pfade, Links, Räume des Wissens und der Praxis erschließen, statt selbst Expertise zu repräsentieren.

4. Endlich: das Netz ist mehr als eine Handvoll Plattformen für Warenpush und Marketing. Es ist immer mehr. Die kommerzielle Aufhebung des alten Internet geschieht nicht ohne Prolongierung des Netzes, das die Kommunikationshierarchien ausdünnt und die bei klassischen politischen Medien (bzw. innerhalb von Institutionen und Organisationen) relevanten Filter und "Gatekeeper"rollen entwertete, so daß die Themendefinition ("Agenda-Setting") demokratisiert und die klassische "Abwärtskommunikation" ("one-to-many") durch Aufwärtskommunikation und horizontale Kommunikation ("many-to-many") ergänzt wird; dieses Netz bietet interaktive und polydirektionale statt überwiegend distributive Formen politischer Kommunikation. Eine Irritation, mit der sogar der amerikanische Militär-Industrie-Komplex, der das Ganze letztlich erfunden hatte, nicht fertig wurde. Nicht nur "das" Netz, sondern auch seine politische Bewegungsformen sind daher nicht auf einen Nenner zu bringen: sie sind differenziert und generieren ständig neue Optionen für marktvermittelte oder hierarchische, für selbstorganisierte oder partizipative Politikpraxis. Das lässt hoffen.

 

Literatur

Boes, A.: Texte zur Informationsgesellschaft, URL:  http://staff-wwww.uni-marburg.de/~boes/home.html

van den Daele, W., Neidhardt, F.: "Regierung durch Diskussion" - Über Versuche, mit Argumenten Politik zu machen., in: diess., (Hg): Kommunikation und Entscheidung. Politische Funktionen öffentlicher Meinungsbildung und diskursiver Verfahren, WZB-Jahrbuch 1996, Berlin 1996. S.9ff.

Deppe, F.: Fin de Siècle, Köln 1997, 128

Kahin, B., Nesson, C., (Hg.): Borders in Cyberspace: Information Policy and the Global Information Infrastructure, Cambridge 1997

Koch, C., Letzte Nachricht von der Öffentlichkeit, Kursbuch 125, Reinbek 1996

Larson, R.R., Bibliometrics of the World Wide Web: An Exploratory Analysis of the Intellectual Structure of Cyberspace (1996), URL: http://sherlock.berkeley.edu/asis96/asis96.html.

Lovink, G., Schultz, P. : Aufruf zur Netzkritik. Ein Zwischenbericht, in: nettime (Hg.): Netzkritik. Materialen zur Internet-Debatte. Berlin 1997

Rilling, R.: Internet und Demokratie, in: WSI-Mitteilungen 3/1997; in erweiterer Form elektronisch in Telepolis (1997) auf dem Netz publiziert.

Saward, M.: Democratic Theory and Indices of Democratization, in: Beetham, D. (ed.): Defining and Measuring Democracy, London 1994 S.6ff.

Thompson, B., Watching the virtual detectives, in: .net 8 (Juli 1995 U.S. District Court for Eastern District of Pennsylvania, Civil Action No.96-1458, June 11, 1996.

Zolo, D.: Die demokratische Fürstenherrschaft. Für eine realistische Theorie der Politik. Göttingen 1997

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