Rainer Rilling
in: Forum Wissenschaft 1/1995 (22. Maerz 1995)

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On the other Side of the Web...

Good News: Weder Kohl noch Kinkel noch Stoiber sind online. Bad News: Mit Sicherheit wird es bald auch eine propagandistisch gut gepflegte E-Mail-Adresse des Bundeskanzleramtes geben. Heute schon sind vor allem die amerikanischen Netze zum Tummeplplatz der konservativen, religiös-fundamentalistischen und radikalen Rechten geworden. Doch wie steht es um the other side of the web?

Wöchentlich, so heißt es nach einer im Internet Ende Februar 1995 verbreiteten "unzuverlässigen Schätzung amerikanischer Behörden", stocke das Internet um eine Million NutzerInnen auf, es sollen bereits über 40 Millionen sein. Nachdem noch 1989 nur rund 80.000 Computer an dieses Netz angeschlossen waren, stieg die Ziffer rapide: 1991 waren es 376.000, 1993 1,3 Millionen, 1994 2,2 und Anfang 1995 4,8 Millionen"Hosts". Allein auf dem Ausschnitt des Internet, der über das grafik- und hypertextfähige World Wide Web-Programm auf den heimischen PC gebracht werden kann, vervielfachte sich der Datenumsatz. Gab es im Juni 1993 gerade 130 WWW-Server, so waren es im Januar 1995 über 12.000. Täglich kommen 50 bis 90 WWW-Server hinzu. Ein "Harper's Index" fürs Internet liefert monatlich komische Statistiken über das fabelhafte Netzwachstum ab, und die Technikseite der FAZ zählte jüngst 30.000 deutsche Modems, die wöchentlich neu ans Netz gehängt würden 1.

Neues Realitätsmodell

Dieser verbreitete Wachstums- und Tempofetischismus in Sachen Datenautobahn ist nicht das einzige Ideologiefragment, das seit Herbst 1994 in den deutschen Massenmedien von Spiegel bis zur Wochenpost herumwabert. Zur selben Zeit übrigens dehnten die Gazetten selbst ihre Geschäfte auf Compuserve oder American Online aus und versuchen seitdem folgerichtig, den LeserInnen ihrer Printmedien die aufregenden Vorteile eines Netzzugangs nahezubringen. Anderen gerät das Internet zum neuen Realitätsmodell, das sie ungezwungen mit Beiworten wie dezentral, anarchisch, chaotisch, unkontrollierbar schmücken. Ein Beispiel unter vielen aus dem CMC-Magazine von Ende 1994:

"What has to have been a communications system for the surviving elite of a military-industrial complex has mutated into a subversive neo-democratic (more precisely, anarchistic) cyberculture. The unique technological character of the Internet has endowed it with a fundamentally subversive nature. Over the past twenty five years of its growth, the Internet has demonstrated that it is not subject of privatization, centralization or control. This situates it in direct opposition to the historical dynamics of capitalism and commercialization." 2

Wer seine persönliche, weltweit ansprechbare Home-Page oder Leitseite zusammenbasteln und aufs Netz bringen darf, fühlt sich rasch heimisch. Zufrieden und kreativ wird er sein eigenes Informations- und virtuelles Erlebnisenvironment erstellen - unzensiert und völlig autonom interaktiv mit den Benutzerführungen, die der QMosaic oder Air-Mosaic - Software zur klassifizierenden Ordnung der virtuellen WWW-Welt (Food and Drink, Fun and Games, Government and Politics, News and Weather) hilfreich vorsorgend beigegeben sind.

Zwanglos verknüpfen sich da das Lob des kreativen Chaos des Internet mit echter Freude über die Errungenschaften des freien Marktes. Und locker zweigen von hier die Gedankengänge ab zum expressiven on-line Individualismus als Freiheitsmaß der neuen Welt oder zu den tausenden Blumen virtueller Gemeinschaften, in denen unabhängig von Rasse, Klasse und Geschlecht kommuniziert wird. Und zwar, im Zweifelsfall, auch militant: das Recht auf Datenschutz durch individuelle Verschlüsselung persönlicher Netzdaten im Cyberspace wird da zum Unterfall des Lebensschutzes durch Selbstbewaffnung. 3

Gegen Clintons und Gores pragmatischeren "Information-Highway" setzt die republikanische Rechte eine Techno-Version des "amerikanischen Traums" Ihr Programmdokument vom August 1994 "Cyberspace and the American Dream: Magna Charta for the Knowledge Age" 4 versucht, den neuen Raum des Cyberspace in die ideologische Staffage der alten Sozial- und Herrschaftsutopie des "amerikanischen Traums" zu packen. Ideologiepolitisch setzt die Rechte auf den Begriff Cyberspace. Ihre Wortpolitik läßt die Clinton-Goresche Rede vom Information Highway in doppelter Weise zurück: die nüchtern-technokratische "Datenautobahn" klingt nicht bloß ein bißchen nach New Deal und öffentlichen Beschaffungsprogrammen, sie ist auch nicht anschlußfähig: Das Ideal optimierter, vor allem beschleunigter Kommunikation steht blind für sich. Es stellt die Frage nach Sinn und Folge nicht. Cyberspace dagegen koppelt den unendlichen Kunstraum der elektronischen Welt an die amerikanische Geschichte realer Kontinental- und imperialer Welteroberung an, assoziiert soweit den Geist des Frontier-Individualismus und kolonialen Sozialdarwinismus.

The right/white side

Kurz: wie in der nicht-virtuellen Welt des normalen Kapitalismus verdeckt der verbreitete Wachstums- und Klassenlosigkeitsfetischismus des Cyberspace einfache soziale Realitäten der bislang auf etwa ein knappes Prozent der Weltbevölkerung begrenzten "globalen" Datenkommunikation. Der Cyberspace ist kein global village, sondern ein von lautstarken weißen Männern bevölkerter Vorstadtclub der weltweiten amerikanisierten Mittelklasse."Middle Class" ist das globale Passwort des Internet: Wer keine Arbeit hat oder arm ist, als Frau geboren wurde oder zum Beispiel auf Grönland und in Afrika lebt 5 - der/die hat zur Zeit praktisch keine Chance, die neuen Server mit Namen aus der europäischen Wissenschaftsgeschichte (Newton, Hobbes, Gauss), amerikanischen Comics (Mickey, Snoopy - aber auch Asterix), griechischen Mythologie, nördlichen Astronomie und Hollywood-SF-Kultur (Spock) ausstatten zu dürfen. Die Leistungsanmahnungen ans akademische Mittelklassenethos - "wer die Netzinformation nicht nutzt, wird auf Dauer abgehängt" 6 - bleiben hier versagt. Die Einkaufszonen des Cyberspace sind die neuen Konsumtempel weißer monokultureller Mittelklassenmänner, den Frauen bleiben Vogue-Anzeigen und Schaufensterbummel. Sie müssen aus ungezählten Gründen eigentlich leider draußen bleiben, nix Cyberspace, kein Login - die ersten Opfer der Datenautobahn. 7 Die Netzwelt ist männlich, da gibt es keine Quote. Newt Gingrichs Ankündigung, über den neuen WWW-Server "Thomas" (nach Thomas Jefferson) des US-Parlaments sämtliche legislativen Dokumente, Berichte und Papiere elektronisch allen Bürgern der USA zur selben Zeit zur Verfügung zu stellen wie den "höchtbezahltesten Washingtoner Lobbyisten", kann selbstsicher darauf bauen, daß etwa jeder zweite erwachsene Amerikaner als funktioneller Analphabet gilt. 8 Verlassen kann er sich auch auf den soliden konservativen Bias der Netzbürger. 1994 ergab eine Umfrage beim großen privaten Netzanbieter Prodigy, daß sich die Hälfte von 3700 NutzerInnen als konservativ, 39% als gemässigt und 8% als liberal (gleich: moderat links) einschätzten. Einer Newsweek-Umfrage von Anfang 1995 zufolge identifizieren sich die Hälfte der 13% US-Amerikaner, die sich jemals online schalteten, mit den Republikanern und nur 24% mit den Demokraten. 9 The right side of the Web ist, was World Wide Web und Gopher-Angebote angeht, gut ausgestattet: beginnend mit Hunderten von WWW-Servern und Gophers aus unserer Weltmilitärordnung, von der NATO über DEFSEC-NET oder Bundeswehruniversitäten bis zur CIA, schon ästhetisch völlig grausam mit den immer gleichen Wappen und Abzeichen, mal tumb, mal martialisch, unterfüttert von überhaupt nicht zivilgesellschaftlichen Pages der Fans von Gewalt- und Waffenkultur. Dann die blühende religiöse Rechte: das Verzeichnis ihrer elektronische Präsenz auf dem Internet überschreitet ein paar Hundert Megabyte, die gut gepflegten ProLife und Anti-Abortion-Angebote eingeschlossen.

Und schließlich die explizit politische Arena: sie reicht von der Home Page der Republikaner des Berkeley College oder dem Republican Liberty Causus (mit dem Motto "Leading the charge for Free enterprise, Individual Freedom, and limited Government"), dem "Nuclear Informations WWW-Server" ("Nuke-Home-Page") oder der "Atomic Home Page" (mit nützlichen Diagrammen zur Herstellung der Atombombe) über die politisch agierenden Rüstungskonzerne à la Lookheed oder Rockwell bis zu den Propagandaseiten der Jesse Helms und Newt Gingrich (brüllend laut natürlich: unter einem "Renewing American Civilization Server" macht er's nicht) und dem "Freedom Network BBS" oder der "Townhall" der rechtsradikalen National Review auf Compuserve. Gegen das Vergessen hilft die Ronald Reagan-Home-Page.

Und die andere Seite?

The green and left side of the Web ist demgegenüber nur mit reichlicher Mühe auf den Bildschirm zu bringen. Der hundertfachen militärischen Netzpräsenz stehen exakt ein halbes Dutzend WWW-Server oder Gopher gegenüber (Communications for a Sustainable Future, PeaceNet, The Well, War and Peace Resources Essex, Peace Tree und PeaCon), die friedenswissenschaftlich ausgerichtet sind bzw. auch pazifistische oder antimilitaristische Positionen und Analysen aufs Netz bringen. Hinzu kommen eine Handvoll rüstungskontroll-orientierter Datenbanken zur Konversion, deren Gegenstand sich jedoch allmählich verflüchtigt.

Erst allmählich, mit großer Verspätung und vergleichsweise weit weniger professionell gehen auch einige der wenigen größeren Friedensforschungseinrichtungen aufs Netz, die deutschen freilich ausgenommen. Zu finden sind auch ein knappes halbes Dutzend Organisationen der (ausschließlich akademischen!) Friedensbewegung wie die Federation of American Scientists (FAS), das Forum InformatikerInnen für Frieden und gesellschaftliche Verantwortung (FIFF), die Computer Professionals for Social Responsibility (CPSR), der BdWi, die Naturwissenschaftler-Initiative Verantwortung für den Frieden (NI) oder Verbände aus England und vor allem Italien. Die Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung kommt in den WWW- und Gopher-Welten des deutschen Internets nicht vor, im US-Netz ernsthaft gerade zweimal (im LaborNet und dem Economic Democracy Information Network bzw. einer Sammlung). Wer die WWW-Suchmaschinen nach "Labor" suchen läßt, wird sich nur die Adressen von ein paar Tausend Hochschul- und Industrieforschungslabors einfangen.

Etwas besser sieht das Politikfeld der Menschen- und BürgerInnenrechte aus: Präsent sind Organisationen wie Amnesty International, die Digitale Burgerbeweging Nederland DB.NL. oder die American Civil Liberties Union, Datenbanken zur Rassismusforschung (bekanntlich auch in Marburg), zum Antisemitismus (u.a. das US-Holocaust Museum oder Sammlungen zu Anne Frank) oder zur Zensur (auch auf dem Internet), endlich auch eine Reihe eigenständiger Human Rights Watch-Server. Zunehmend kommen über akademischen Quellen Datensammlungen zu Frauenrechten und feministischen Positionen hinzu.

Kärglich dagegen das rot-rosa-grüne Organisations- und Parteienspektrum: In den deutschen Landen flottieren die Parteien im Usenet und der Mailbox-Szene herum. Die Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) soll auf Datex-J gefunden werden können. Die SPD-Version 1.0 (oder wenigstens beta) fürs WWW läßt trotz Glotz und Clement offenbar noch auf sich warten. Die Bündnisgrünen sind eher clever an der Oldenburger Uni auf einer Infoseite zur Forschung und Lehre untergeschlüpft, das Schmuddelkind PDS ist gopher & www-off-line.

International sind allerlei Varia zu vermerken: Die holländische Partei der Arbeit oder die englische Labour Party,die amerikanischen Demokratischen Sozialisten, das Green World Wide Web, die finnischen, amerikanischen und holländischen Grünen, der ANC und die Zapatistas, Greenpeace und WWF, kommunale Initiativen vor allem aus den USA, ein paar trotzkistische und sozialistische Organisationen etwa aus Norwegen, England und den USA. "EcoNet" oder "Planet Earth" bearbeiten weitläufig ökologische Fragen, Projekte wie "Hunger Web" oder das "Fourth World Documentation Project" konzentrieren sich auf den Teil der Welt, der ansonsten im Internet nicht vorkommt.

Diverse Zeitschriften ergänzen dieses Spektrum: Ctheory und Bad Subjects, Class War, Contraflow und Breakaway, Mother Jones und The Nation, Progressive Review, Perspective, Journal of Democracy sind Titel, die wohl noch einige Zeit zu finden sein werden. Die Toscana-Fraktion kann seit kurzem täglich an Il Manifesto und L`Unità schnuppern. Mittlerweile gibt es sogar eine (langweilige) "Marxism-Page" und, bekanntlich, die MEW online für Oldies, auf Gopher, wenigstens ein paar Hundert Seiten, allerdings auf englisch: Marx.

Anmerkungen

1) Zur Netzstatistik vgl. NW; Netgen; Openmarket; IBC; Matrix NSFNET/; FAZ v. 21.2.1995. Zum Internet vgl. im übrigen Doris Kretzen: Informations-Highways und Hitchhiker, in: Forum Wissenschaft 1/1994, S.21-25.

2) Michael Strangelove: The Internet as Catalyt for a Paradigm Shift, in: Computer-Mediated Communications Magazine (CMC Magazine) 8/1994, S.7. Vgl. CMC.

3) So etwa in einem Leserbrief an Wired und wohl auch einer der Gründe für die Präsenz der Freunde des Gewehretragens und Schußwaffengebrauchs auf dem Internet, siehe die Zusammenstellung zur Military Side of the Web sowie PeaCon.

4) Diese großmäulige Ausgabe der "Magna Charta" vom 22. August 1994 trägt die Versionsnummer ("Release")1.2. Verfasst wurde sie von George Gilder, Alvin Toffler, Esther Dyson und George Keyworth, dem Wissenschaftsberater Reagans und SDI-Propagandisten. Dahinter steht die Progress and Freedom F»undation, die als Newt Gingrichs Einrichtung gilt und in deren Informationsdienst amerikanischen Lebensmaximen zu lesen sind wie "Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen", s. The Nation v. 6.2.1995. PFF wird finanziert von ATT, BellSouth, Turner, Cox Cable, Philip Morris oder Wired magazine.

5) Das Internet der USA oder der BRD bietet ein paar Jobbörsen für Manager oder Hochschulabsolventen, nicht aber für geringer oder gar nicht ausgebildete Erwerbslose. Tips für Arbeitslose gibts nicht auf dem Internet. Rund die Hälfte der ComputernutzerInnen der USA hat ein Haushaltseinkommen, das um das Siebenfache über der Armutsgrenze liegt. Auch die flottesten Suchmaschinen werden das Schlagwort "Gewerkschaften" nicht finden - sicher ein prämodernes Ansinnen. Vgl. auch Vgl. Pitkow, James, Recker, Mimi: Results from the first World-Wide-Web User Survey (vgl. WWW-Survey), wonach von 4777 Antwortenden 94% Männer, 45% "professionals", 22% Studierende und gerade 5,64% zu der Residualkategorie "Andere" gehörten. Eine am 7.2.1995 publizierte weitere Umfrage nach der WWW-Nutzung erhielt einen Rücklauf von 554, darunter 90% Männer, s. WWW-Survey 94.

6) Bild der Wissenschaft 3/1995, S.83.

7) Supply-Side Ökonom George Gilder, Mitautor der Magna Charta release 1.2., forderte in einem 1973 erschienenen antifeministischen Traktat: "Der Platz der Frau ist das Heim." Zu Gilders Ansichten vgl.Gilder.

8) CMC-Magazine 4/1994, S.7.

9) Newsweek v.27.2.1995, S.22.

Die genannten links finden sich unter PeaCon bzw. aktualisiert und unter Wissenschaft plus Politik.

Dr. Rainer Rilling ist Privatdozent für Soziologie an der Universität Marburg und Geschäftsführer des BdWi. E-Mail: rillingr@mailer.uni-marburg.de
24.12.04