Rainer Rilling

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Erschienen in: SPW - Zeitschrift für Sozialistische Politik und Wirtschaft 6/1998 S. 31-35

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1. Das Downgrading eines Politikfeldes

"Der Suchvorgang innerhalb des Dokuments ist abgeschlossen. Das gesuchte Element konnte nicht gefunden werden." Das gesuchte Element war das Wort "Internet" und das besuchte Dokument heißt "vertrag.doc" und trägt die Überschrift "Aufbruch und Erneuerung - Deutschlands Weg ins 21. Jahrhundert". In der Koalitionsvereinbarung der Regierungsparteien ist vom Internet nirgends die Rede. Zu lesen ist: "Die Politik der Bundesregierung zielt auf die beschleunigte Nutzung und Verbreitung moderner Informations- und Kommunikationstechnologie in der Gesellschaft. Chancen und Potentiale der Wissens- und Kommunikationsgesellschaft müssen für eine international wettbewerbsfähige Wirtschaft, für neue Erwerbsarbeit, für ökologische Nachhaltigkeit, für einen uneingeschränkten Informationszugang, für Wissenserweiterung und für die weltweite Erweiterung der Freiheitsräume der Menschen ausgeschöpft und erschlossen werden ... Effektiver Datenschutz im öffentlichen und im privaten Bereich gehört zu den unverzichtbaren Voraussetzungen für eine demokratische und verantwortbare Informationsgesellschaft. Die notwendige Anpassung des deutschen Datenschutzrechts an die Richtlinie der Europäischen Union soll kurzfristig umgesetzt werden. Durch ein Informationsfreiheitsgesetz wollen wir unter Berücksichtigung des Datenschutzes den Bürgerinnen und Bürgern Informationszugangsrechte verschaffen."

Dass eine Vision des "Übergangs in die Dienstleistungs-, Wissens- und Informationsgesellschaft" in einem kleinen Spiegelstrich ausgerechnet im Kapitel "Deutsche Einheit vollenden" auftaucht, sollte wohl nicht zu Ernst genommen werden. Bei der Festschreibung der politischen Zielvorstellungen der neuen Regierung spielten offenbar die Konzeptionen zur Entwicklung der Informationsgesellschaft, Medien- und Kommunikationspolitik keine Rolle, die seit 1995/6 auch im Kontext der beiden Regierungsparteien ausgearbeitet worden waren. Das mehrseitige Verhandlungspapier zur Informationstechnologiepolitik löste sich im Verlauf der Verhandlungen in Luft auf. Der neue Ressortzuschnitt zeigt, dass es um anderes ging als um die Realisierung der von den einstigen Oppositionsparteien geforderten Einheitlichkeit einer übergreifenden, neuen Medien- und Kommunikationspolitik. Das Verständnis – und die Lobby – für eine solche nicht nur ökonomisch und propagandistisch ansetzende Politik scheint im neuen Bundestag offenbar noch mehr zu fehlen als im vergangenen.

2. Die Informatisierung der Politik

Dabei ist evident, dass die Informatisierung des Parlamaments, der Verwaltung und des politischen Prozesses international wie in der Bundesrepublik voranschreitet. Beispiel Internet: eine Untersuchung Anfang 1998 ergab, dass praktisch alle Büros des US-Parlaments täglich das Internet nutzen. 90% der Parlamentarier haben Netzzugang; knapp die Hälfte der Büros erhalten täglich mehr als 50 E-Mails aus dem Wahlkreis, 16,1% sogar mehr als 200. Clinton brachte es in seiner Amtszeit bislang auf 2,3 Millionen E-Mails. Von 270 Wahlkampagnen in den USA für die diesjährigen Novemberwahlen setzten 63% das Internet ein. Neben TV, Radio, Zeitung, Telephon und Direktmailing etablierte sich als sechste Komponente des Campaignings das Internet. Für die Professionalisierung des politischen Medieneinsatzes steht, dass jeder zweite Netzwahlkampf durch externe Agenturen wie Net.Capital oder Mindshare Internet Campaigns technisch und medienpolitisch realisiert wurde. Die Veröffentlichung des Starr-Reports auf dem Server des US-Parlaments führte zu drei Millionen Zugriffen in der Stunde, die Zugriffe auf Newsmedien nahmen um über ein Drittel zu. CNN meldete 350.000 Zugriffe pro Minute, MSNBC notierte zwei Millionen "Starr-Besucher" und AOL kalkulierte einen Zuwachs um 30% - das Netz wurde zum Massenmedium des Parteienkampfes. 12% der US-Bevölkerung (15% der Männer und 8% der Frauen) riefen das Dokument ab – und befassten sich eine halbe Stunde damit. Die übliche durchschnittliche Verweildauer pro Dokument ist eine Minute. Bei der politischen Mobilisierung zu den Parlamentswahlen im November spielte das Internet eine beträchtlich größere Rolle als zuvor.

Auch in der Bundesrepublik gab es im Zusammenhang mit der Bundestagswahl einen kurzen Aufschwung der politischen Netzaktivität. Neben den virtuellen Parteizentralen entwickelte sich erstmals ein Personenbranding (von eng.: brand = Markenzeichen, d.Red.): Domains auf den Namen der Kandidaten wurden eingerichtet (1). Auch hierzulande spielten Agenturen und die Ankoppelung an die klassischen Medien erstmals eine Rolle (2). Helmut Kohl präsentierte sich digital und bemitleidenswert im Chat - es dauerte eine halbe Stunde, bis seine erste von insgesamt sechs Antworten eintrudelte und 70 Minuten später war alles vorbei. Die Resonanz auf die Netzaktivitäten ist schwer einzuschätzen, eine detaillierte Übersicht zur Nutzung der politischen Netzangebote der Parteien liegt nicht vor. Der personelle Ressourceneinsatz blieb schmal (2-5 Personen), der finanzielle ist unbekannt. Parallel dazu wurden die Websites der Fraktionen auf Bundes- und Landesebene ausgebaut. Am Ende der Legislaturperiode hatten 196 Parlamentarier eine Webseite – vor vier Jahren gab es keine. Die Nachrichtenmedien (Magazine, TV-Nachrichten) bauten eine umfangreiche wahlpolitische Netzberichterstattung mit professionell gestalteten und präsenten politischen Websites auf, ebenso einige Landeszentralen für politische Bildung. Insgesamt war 1998 das Medium Internet erstmals im Wahlkampf präsent – seine politische Bedeutung gegenüber anderen Medien wurde, wie der Ressourceneinsatz der Parteien zeigt, jedoch als noch sehr gering eingeschätzt.

3. Die Ordnung der Menschen

Jede/r durchschnittliche bundesdeutsche Erwachsene sieht täglich drei Stunden fern und hört ebenso lang Radio – befasst sich aber nur 7 Minuten mit dem PC. Dennoch ist kaum mehr umstritten, dass sich das Internet binnen eines Jahrfünfts zu einem Massenmedium entwickelt hat. Und wie andere Massenmedien reproduziert es vorhandene Dimensionen sozialer Ungleichheit. Im Frühjahr 1998 verfügten nach der ARD/ZDF-Onlinestudie 1998 über 6,6 Millionen Menschen in der BRD privat oder beruflich über Netzzugang – 10,4 Prozent der Bevölkerung. Fast 40% der heutigen NetznutzerInnen sind irgendwann in den letzten zwei Jahren dazu gekommen, 72% sind männlich, 62% haben Gymnasiums- oder Hochschulabschluss, 14% waren Hauptschulabgänger, ohne Abitur sind 23%, 2/3 sind voll berufstätig, 20% sind Schüler und Studierende. Trotz der schnellen Ausweitung zeigen sich also robuste Muster ungleicher Verteilung, was das Geschlecht und die Qualifikation angeht.

Das US-Handelsministerium diagnostizierte dieses Jahr in seiner zweiten Studie "Falling through the Net" eine Vertiefung der "digitalen Kluft" – ungeachtet der Zunahme des Zugangs zu Computern und Netz. Die Ausstattungsdichte mit Computern ist bei Amerikanern mit Hochschulqualifikation zehn Mal so hoch (38,4%) wie bei jenen, die nur acht Jahre oder weniger in der Ausbildung waren. Nur 13,9% der Haushalte mit weniger als 35.000 $ Jahreseinkommen waren 1997 online (und nur 2,3% der ländlichen Haushalte mit einem Einkommen bis 10.000 $), aber 49,2% der Haushalte mit einem Einkommen von über 75.000 $. Haushalte der Weißen sind drei Mal so häufig online wie die Haushalte der Latinos und Afroamerikaner. Die Onlineanbindung auf dem Land ist weit unterdurchschnittlich. Kumulative Effekte sind evident: nur 1,2% der Ungelernten, die nicht in der Stadt wohnen, haben einen Netzzugang, dagegen fast 40% der Hochschulabsolventen, die in der Stadt leben. Generell stehen Arme auf dem Land, Minderheiten auf dem Land und in den Innenstädten, Jugendliche und Haushalte, die von Frauen geführt werden, am Ende der Skala (3). Norris`Auswertung einer Reihe US-amerikanischer Studien schließlich legt nahe, dass sich just in der Gruppe der politischen Aktiven die bei den NetznutzerInnen ohnehin ausgeprägte Geschlechterdifferenz vertieft und hier der Anteil der Einkommenstärksten dreimal höher ist. Endlich gibt es zahlreiche Anhaltspunkte dafür, dass jene, die das Internet intensiv nutzen, offenbar politisch überdurchschnittlich interessiert und aktiv sind und auch andere Medien überdurchschnittlich nach politischen Inhalten abfragen.

Wenn sich durch das Internet bislang das Verteilungsmuster des politischen Engagements auch aufgrund der Wiederholung des bekannten sozialökonomischen Bias nicht grundlegend änderte - nur wenige Have-Nots betreiben "politische Kommunikation im Cyberspace" - dann ist es weiterhin eine genuine Aufgabe demokratischer Kommunikationspolitik, die vorhandene technische, ökonomische, soziale wie kulturelle Zugangs- und Nutzungsungleichheit wissenschaftlich zu ermitteln und global, regional wie lokal politisch zu kompensieren bzw. abzubauen. Technikkompetenz und medienpädagogisch antrainiertes Kontextwissen reichen hier nicht aus - gefragt sind finanzieller Ressourceneinsatz und die Einbindung des Mediums und seiner Technik in alltägliche Nutzungszusammenhänge, deren politische Dimension bemerkt und ergriffen werden kann. Dass demokratische Netzpolitik damit eine massive sozialpolitische Dimension hat, ist in der amerikanischen Diskussion nichts Neues; hierzulande gehen diese Begriffe bislang nicht zusammen.

4. Die Ordnung der Daten

Mit der Transformation des Internets in ein globales Massenmedium verändert sich die Machtstruktur des neuen Mediums. Im Prozess und Resultat der Globalisierung des Netzes lassen sich unschwer die Markierungen der globalen Ordnung wiederfinden.

Nationen, welche die höchste Dichte an Transport, Energie und Telekommunikationsumsätzen haben, führen auch in der Internetnutzung – so die Untersuchung von Arnum/Conti, die sich auf Januar 1998 bezieht: "Der Grad der Internetaktivität in einem Land, gemessen an der Zahl der Hosts, Domänen und Webseiten, ist streng korreliert mit dem Reichtum (= Pro-Kopf-Einkommen – RR.) sowie den Infrastrukturen für Energie, Kommunikation und Transport. Die Korrelationen zu Strassen, Bahn und Bevölkerungsdichte sind weit schwächer." (4) Es gab keine Länder, die unter dem Pro-Kopf-Einkommensdurchschnitt lagen, aber eine überdurchschnittliche Netzkonnektivität erreichten. "Neun Länder in Skandinavien und Nord Amerika besitzen gemeinsam nur 6% der Weltbevölkerung, aber 73% der Webseiten und 79% der Internethosts." (5) Zu dieser Struktur gehört, dass die sechs am meisten verbreiteten kommerziellen Netzanbieter in den USA basiert sind und American English die Lingua Franca des Internets ist – und bleiben wird. In der Bundesrepublik wird der Markt der privaten Onlinedienste von nicht einmal einem halben Dutzend Anbieter kontrolliert, vorweg T-Online, AOL und Germany.net.

Auf dieser Hierarchisierung der globalen Netzordnung baut sich eine neue Geographie der Datennetzwerke auf. Eine Analyse von Moss und Townsend vom April 1998 (6) zeigt, dass sieben hoch verknüpfte Metropolen die US-amerikanische Geographie der Datennetzwerke bestimmen. Sie erfassten die Verteilung der Domänenregistrierung und die Kapazität der Internetverbindungen (der 29 potenten Netzwerke, die als "Backbone" charakterisiert werden) in 85 Großstädten, Stadtregionen und Bundesstaaten. Als Zentren der Netzaktivität in den USA gelten Massachusetts, New York, Florida, Texas und California. Regional konzentriert sich die Netzaktivität auf die Achsen Boston - New York – Washington und San Francisco – Los Angeles - San Diego. Kurz: im Gegensatz zu den Theorien von der dezentralisierenden Wirkungsweise des Netzes hat das Internet einen klaren Bias in Richtung auf die Spitze der städtischen Hierarchien. Die komparativen Vorteile der großen städtischen Zentren werden nicht untergraben und es dominieren die traditionellen Zentren der Telekommunikation und Medien. Politisches Gegensteuern zu dieser globalen wie regionalen Hierarchisierung der Datennetzwerke existiert kaum – für die Bundesrepublik ist dieser Sachverhalt weder wissenschaftlich analysiert noch politisch präsent.

Diese neue Topologie der globalen Ordnung der Daten wird akzentuiert, betrachtet man die Binnenordnung des technisch konstituierten Informationsraums. Sieben Internetfirmen sind mittlerweile über 50 Millionen Amerikanern bekannt: America Online,Yahoo!, Netscape, Amazon.com, Priceline.com, Infoseek, Excite. AOL ist vier von fünf AmerikanerInnen ein Begriff. Nur einige wenige Websites ziehen einen Großteil des Netzverkehrs auf sich, angeführt von AOL, Yahoo, Microsoft, AltaVista/Compaq, CNN, Infoseek, Cnet, Geocities und Netscape – und der Markt der Erfassung entsprechender Daten ist nebenbei mittlerweile zum Gutteil zwischen den Ratingfirmen Media Matrix, Nielsen Media Research, PCData und NetRatings aufgeteilt. Auch ein Blick auf die bundesdeutschen Online-Nutzungsdaten zeigt eine starke Konzentration auf wenige Anbieter (AOL, Focus, ProSieben, praline, SAT1, Spiegel, Stern, TV Spielfilm, BILD, Handelsblatt, Rhein-Zeitung, ZDNet, DINO, Fireball und fünf Vermarktungsgemeinschaften) (7). Zwar ist eine umfassende Rekonstruktion der Hyperlinkstruktur, die ganz wesentlich Sichtbarkeit und Aufmerksamkeitsverteilung im Informationsraum vermittelt, gegenwärtig nicht möglich. Auf nur einige wenige Sites wie Yahoo, Microsoft oder Netscape wird jedoch millionenfach verwiesen.

Solche Zentrum – Peripherie - Strukturen werden bemerkenswerterweise auf einer technischen Basis realisiert, deren Eigenschaften eine zentrale Systemsteuerung unmöglich machen. Die Internetstandards sind offen und nicht proprietär (eigentumsgebunden, d.Red.), weder die Technik noch die Netzdienste und der Hostbetrieb können zentral kontrolliert werden. Der Ersatz der freien Software durch proprietäre Software geht zweifellos nur recht schleppend vor sich: das Netz und seine Dienste funktioniert immer noch weitgehend dank frei zugänglicher Software / Programme wie Apache, Perl, Majordomo, Sendmail, BIND, INN etc., welche die Ausweitung des Netzes und die globale Anschlussfähigkeit für alle digitalisierbaren Kommunikationsformen sichern sollen. Privateigentumsbildung und daraus entstehende Verfügungs- und Entscheidungsmacht ist am weitesten jenseits dieser Ebene entwickelt: dort, wo es um die physikalische Basis dieses Systems geht - also etwa um die verschiedensten Übertragungsmedien Kabel, Satelliten, Speicher usw. - und dort, wo es um Anwendungen geht – also etwa um die Ordnung der Schnittstellen zur Nutzung und die dort laufenden Anwendungen. Hier geht es nicht nur um proprietäre Anwendungssoftware (dass Browser - die Programme, mit denen man sich im Internet bewegt, Seiten aufruft und ansieht etc., d.Red. - weithin verschenkt werden, ändert nichts daran), sondern – wesentlicher – um die Privatisierung des Adressraums (die Provider gelangen nun in den Besitz der Adressen, sie gehören eigentlich nicht mehr den Sites, die sie gleichsam von den Providern ausleihen), um die Bildung geschlossener Informationsräume (Intranets) oder um die Hierarchisierung der Kommunikationsdienste durch Bandbreitenreservierung und Arrangements proprietärer zeitkritischer Dienste.

5. Die Ordnung der Politik

Die verstärkte Nutzung des Internets durch die politische Kommunikation ändert nichts daran, dass politische Netzkommunikation eine relativ marginale Rolle spielt. Nur einige Hundert der weit über 100.000 Mailinglisten und Newsgroups befassen sich explizit mit "Politik" und dass die Zahl politischer Web-Angebote in der Bundesrepublik dank der Ausweitung der Webpräsenz staatlicher Stellen mittlerweile einigermaßen vierstellig geworden ist, ändert nichts daran, dass der Anteil politischer Sites in der Bundesrepublik bei gut einem halben Prozent liegen dürfte.(8)  Auch auf der Nachfrage- oder Nutzungsseite spielt explizite Politik im Gesamtspektrum der Netzkommunikation keine herausragende Rolle. Eine Umfrage des US Freedom Forum ergab, dass von den 26% der Amerikaner im Wahlalter, die einen Netzzugang hatten, nur 4% politische Sites besuchten. In den Ranglisten verbreiteter Spezialverzeichnisse, die Häufigkeiten der Zugriffe auf Netzangebote dokumentieren, kommen politische Angebote nicht vor. Politik wird (bestenfalls) mitgelesen bei der Nutzung der allgemeinen Netzangebote etablierter Medien (CNN, Time, FOCUS, Stern, SPIEGEL, Welt usw.), nur die zentralstaatlichen politischen Netzangebote (Bundestag / Bundesregierung oder Weisses Haus / US-House) haben mittlerweile wenigstens ansatzweise vergleichbare Nutzungsziffern. Die Angebote anderer staatlicher Stellen und politischer Organisationen werden demgegenüber weitaus weniger wahrgenommen. (9)

Während die Zugriffsziffern mittlerweile gleichsam als virtuelle Einschaltquoten fungieren und bei Großanbietern wie Spiegel-Online das Feedback durch Seitenabrufe mittlerweile im Kurzzeittakt die Plazierung der Dokumente bestimmt, ist die Rekonstruktion der Verteilung der Sichtbarkeit und Aufmerksamkeit auf die politischen Orte im Informationsraum durch Analyse der Linkstruktur noch wenig üblich. Dabei wird so nicht der passive User erfasst, sondern die Gruppe jener, die aktiv durch eigenes Wahlhandeln das Feld des politischen Informationsraums mitgestalten. Eine Zusammenstellung der Anzahl der Verweise auf gut 40 von insgesamt über 600 bundesdeutsche politische Sites, die in eine Link-Recherche mittels der Suchmaschinen AltaVista und Infoseek (3. Juni 1998) einbezogenen wurden, zeigt, dass rund ein Dutzend politischer Sites von Ministerien, Landesregierungen oder Parteien sich zentral positioniert hat; der Deutsche Bundestag nimmt im Verweisfeld Politik mittlerweile die erste Stelle ein. In der Spitzengruppe der 43 Websites, die im politischen Verweisraum eine hohe Aufmerksamkeitschance haben, sind 41 (!) Netzangebote etablierter größerer Institutionen, Organisationen, Verbände und Parteien.. Auf der anderen Seite gibt es zahllose kleinere politische Sites, die aus dem politischen Verweisfeld herausfallen und kaum eine Chance haben, gefunden, gesehen und zur Kenntnis genommen zu werden - soviel zum Thema der Egalité im Netz (10). Die Bildung von "Webrings" (Verweiskartellen) ist ein Gegenmittel, das Pornografieanbieter weit besser beherrschen als die Linke.

Insgesamt herrscht hierzulande neben Projekten zur Rationalisierung politischer Kommunikation ("bürgernahe Verwaltung") und wenigen Angeboten / Projekten gesellschaftlicher Organisationen, Initiativen und Bewegungen das netzpolitische Marketing politischer Großunternehmer vor. Es knüpft an "pop/interactive" Medienformate an, die sich in den USA Ende der 80er Jahre durchzusetzen begannen und die mit Begriffen wie "Talkshows", "Popcampaigning", "Interaktion (Feedbackpolitik)" charakterisiert sind (11). Das Netz befördert die Verbreitung solcher Formate und ermöglicht zugleich ihre Feindifferenzierung ("narrowcasting"). Vor allem stoßen wir mittlerweile gerade auch im Raum politischer Netzkommunikation auf eine weitläufige Topographie der Interaktivität. Kein großer politischer Site in der Bundesrepublik kommt ohne ein mediengerecht mobilisierendes Interaktivitäts-Set aus: E-Mail-Adressierungen, Gästebücher, Dokumentendownload, Serviceleisten, Linkkataloge, Mailinglisten, Chat-Rooms, Online-Konferenzen, interaktive Spiele ohne Ende. Interaktivität ist mittlerweile netzpolitisch korrekter Standard. Bemerkenswert an diesem auf den ersten Blick demokratiepolitisch hocherfreulichen Vorgang ist, dass kein (!) großer politischer Site sechs Fragen thematisiert:

1. wer das Set warum, also mit welchen Zielen eingerichtet hat

2. ob das Set überhaupt genutzt wird,

3. wozu das Set genutzt wird

4. was die Nutzung beim Nutzer – zum Beispiel politisch - bewirkt (Stichwort Wirkungsforschung)

5. ob die Nutzung ausgewertet wird und

6. was die Nutzung beim Benutzten - zum Beispiel politisch - bewirkt.

Dies alles hat mit Transparenz politischer Kommunikation zu tun. Solches Wissen über Kontext, Realität und Folgen interaktiver politischer Kommunikation ist die Voraussetzung dafür, Aussagen über die tatsächliche Funktion und Relevanz des "Comebacks des Paradigmas der Interaktivität" (Gottfried Oy) machen zu können, insbesondere darüber, welche Bedeutung die Interpretation der Kommunikation seitens der Empfänger für die Befestigung oder Hinterfragung eines herrschenden Konsens hat (12). Ob und wie der Modus der Interaktivität tatsächlich Interessensbildung und -formulierung unterstützt, wie dies die gängigen demokratietheoretischen Annahmen zum Internet unterstellen, oder ob es hier nicht um ein sich parallel entfaltendes Instrumentarium geht, mit dessen Hilfe vordergründig netzspezifisches Infotainment realisiert wird, indem jede/r mal am politischen Spiel mitmacht.

Fast nie wird beim Reden von Interaktivität auch von Macht gesprochen. Schon im wirklichen Leben ist Macht eine unsichtbare Eigenschaft sozialer Beziehungen. Sie kann bestehen in der Durchsetzung eines Willens, in der Kontrolle über Situationen und Akteure und Kontexte, in der Öffnung oder Schließung von Optionen und Handlungskorridoren. Macht legt fest - das ist ihre Funktion. Mit den neuen Medien des virtuellen Raums verschwindet Macht nicht, sondern verbirgt sich zusätzlich. Sie aufzuspüren, ist von großer Bedeutung für jene, die durch eine solche Ordnung festgelegt, an sie gebunden werden. Natürlich geht es darum, diese Macht mit viel Bedienerfreundlichkeit auszustatten - sie zu personalisieren, sie zu individualisieren, mit Feedback und Interaktivität und Wahlmöglichkeit zu versehen. Macht ist - fast immer - eine asymmetrische Tauschbeziehung, der Mausclick wird gebraucht, sonst funktioniert sie nicht. Allerdings: Macht, die ihre Bindungfähigkeit offen vorführt, sich zeigt, wird problematisch, schließlich ist Unsichtbarkeit ein kostbares Asset der Machtausübung. Die neoliberale Option für Netzeplebiszite und Direktdemokratie ist darauf aus, die organisierte Repräsentanz gesellschaftlicher Interessen zu beseitigen und öffentliche, kollektive und politische Anliegen in isolierte, individuelle, private Wahlen zu konvertieren, Bürger (Netizens) in Konsumenten (User) zu verwandeln, die am Markt politische Transaktionen realisieren (13).

Die neoliberale Form, in der sich das Netz zum Massenmedium entwickelt hat, bedeutet: das institutionelle Kontrollgefüge, das um die alten Massenmedien entstanden ist, fehlt fast völlig: von der fehlenden Konzentrationskontrolle über Regelungen der inneren Machtstruktur ("innere Pressefreiheit") und der wechselseitigen Selbstkritik der Medien bis zu justitiablen und normativen Festlegungen, wie sie etwa öffentlich-rechtliche Anstalten als Aufgabenstellung der Einrichtungen formulieren (Naturschutz, Gleichheit, internationale Verständigung usw.). Dies wiegt um so schwerer, als die rapide voranschreitende Kommodifizierung des Netzes durch massive Privatisierung und völlig unkontrollierte Konzentrationsprozesse unterfüttert wird – niemand ist hierzulande institutionell gehalten, diesen Prozess auch nur zu beobachten, geschweige denn zu kontrollieren. Mittlerweile ist die Erfindung des institutionellen Gefüges des neuen Massenmediums im vollen Gange. Es agieren Telephongesellschaften, Computerindustrie, Medienkonzerne, Inhaltsanbieter und – zunehmend machtloser – die alte Netzcommunity. Das alles läuft auf eine Umwandlung des FreeNet ins PayNet hinaus, selbstredend mit allerlei kulanten Gemeinwohlzugaben. Was Politik mit und auf den Netzen dann sein wird, ist evident.

Hierzu gibt es jedoch eine politische Alternative. Die Technologie des Netzes weitet objektiv den politischen Handlungs- und Reflektionsraum des Individuums und der Have-Nots aus. Damit ermöglicht das politische Netz jenen eine Verteil- und Kommunikationschance, die kaum Ressourcen haben, weshalb die Forderung nach Ausweitung des Zugangs zu öffentlichen Netzen und Aufschliessung des in öffentlichen Einrichtungen (Bibliotheken, Hochschulen, Verwaltungen, Schulen, Organisationen usw.) vorhandenen Wissens für dieses Medium sinnvoll ist. Diese Technologie macht es auch möglich, dass in ein solches Gefüge auf neue Weise die Kontrollformen der Selbstverwaltung und Self-Governance eingebaut werden können. Notwendig ist dazu eine demokratische Netzpolitik. Sie muss sich auf drei Schlüsselkonzepte konzentrieren: unbeschränkter und allgemeiner und weitgehend unentgeltlicher (!) Zugang, Public Service und Selbstverwaltung (Self-Governance). Die Prämisse: eine dauerhafte Allianz- und Machtbildung der medien- und netzpolitischen Linken. Sie ist überfällig.

Fussnoten

1 guido-westerwelle.de, schroeder98.de, jost-stollmann.de, joschka.de, helmut-kohl.de (auf die Junge Union Nordbaden registriert). Die .www. Schroeder.de freilich hatte der schlaue CSU-MdB Helmut Jawurek für die Junge Union Oberpfalz erstanden ("Diese Seite befindet sich noch im Aufbau!").

2 Die Webauftritte der FDP betreute die Verlagsanstalt GmbH KG, den von Fischer die Agentur Bildschirmarbeit, Stollmann wurde von der Agentur Media diSain lanciert. Die Agentur Wysiwyg betreute nicht nur RWE, Krombacher und Persil, sondern auch die SPD.

3 James W. McConnaughey, Wendy Lader: Falling Through the Net II: New Data on the Digital Divide, Washington 1998, s.http://www.ntia.doc.gov/ntiahome/net2/falling.html. 1997 hatten hiernach 93,8% der US-Haushalte einen Telephonanschluss, 35,6% einen PC, 26,3% Modems und 18.6% Netzzugang.

4 Eric Arnum, Sergio Conti: Internet Deployment Worldwide: The New Superhighway Follows the Old Wires, Rails, and Roads, INET 1998. http://130.75.2.13/inet98_proc/5c/5c_5.htm. Ansonsten verweise ich global auf die hervorragenden Analysen von Uwe Afemann (Universität Osnabrück).

5 Ebd.

6 Mitchell L. Moss, Anthony M. Townsend: Spatial Analysis of the Internet in U.S. Cities and States, New York University, April 1998, http://urban.nyu.edu/research/newcastle

7 http://www.ivw.de/data/index.phtml

8 Vgl. die Kataloge "Politische Kommunikation" der Friedrich-Ebert-Stiftung [http://www-fes.gmd.de] sowie "Wissenschaft plus Politik" [http://staff-www.uni-marburg.de/~rillingr] sowie W. Hecker, R. Rilling: Politik im Internet. Papyrossa: Köln 1998

9 Vgl. die Verzeichnisse Web-Counter Top 100 List (URL: www.digits.com/top), Webhits (URL: www.b-online.de/webhits/)und 100hot Websites (URL: www.100hot.com) Von einer (!) Ausnahme abgesehen kommen politische Angebote nirgends vor, es dominieren Unterhaltungsangebote, Medien und netzbezogene Sites. Ein Beispiel zu den Größenordnungen: während im Sommer 1997 www.bundespraesident.de wöchentlich 800 - 1.000 Besuche aufzuweisen hatte, zählte Beth Mansfield`s Site "Persian Kitty`s Adult Links" 425 000 tägliche Aufrufe.

10 S. http://www.bdwi.org/bibliothek/cyberdemokratie.html

11 S. Diamond, E. Silverman, R. A.: White House to your House. Media and Politics in Virtual America. Cambridge 1997.

12 Immer noch im Anschluss an Stuart Hall sowie an Noam Chomsky`s Manufacturing Consent.

13 Dies hat am Beispiel der kanadadischen Reformpartei gezeigt David Barney: Push-button Populism: The Reform Party and the Real World of Teledemocracy, University of Toronto, in: Canadian Journal of Communications CJC 21.3. http://hoshi.cic.sfu.ca/calj/cjc/Backissues/21.3/barney.html

 

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