Krys, 1935-2016

At Work

Hans Jürgen Krysmanski, am 27. Oktober 1935 in Berlin geboren, ist am 9. Juni 2016 gestorben. Vor zwei Jahren hat er verschmitzt mit seinem schmalen Die letzte Reise des Karl Marx über ein Lebensende getextet, eine historische social fiction. Sein letztes Buch. Sein Leben lang zog er an vielen Fäden des Endes des Kapitalismus, von denen neuerdings so viel die Rede ist. Er mochte das “Always historicize!” (Fredric Jameson) mit Leuten, Worten, Bildern, das „cognitive mapping“ mit den großen Themen und Theorien, wilden Fantasien und neugierigen Assoziationen – den Utopien, Sozialismen, den Kämpfen der Linken, der reflexiven, radikalen, dissenten, außenseiterischen, nützlichen, hilfreichen, materialistischen Wissenschaft, der Science Fiction also, den Produktivkräften und der Hightech, den Big Data und Netzen und den TV-Medien, dem Gewalt-, Kriegs- und Rüstungskapitalismus mitsamt seinem mörderischen Militär-Industrie-Komplex, der globalen Attraktion des ungeheuren American Empire, endlich der Machtstrukturforschung von unten über oben mit dem Fokus auf Eigentumsmacht, Reichtum und der Geopolitik planetarer Imperialität.

68Krys promovierte 1961 bei Helmut Schelsky über „Die utopische Methode. Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher utopischer Romane des 20. Jahrhunderts“ und schließt: „Einem sozialen Denken, das am status quo, dem „illusionärsten alIer Ziele“, klebt, hilft die utopische Spekulation so auf die Beine; sie lehrt es gehen in einer Welt, die bereits zu rasen beginnt.“ Er war Mitarbeiter an der Sozialforschungsstelle Dortmund, sodann während des Jahres 1964 inKolumbien als Gastdozent an der Universidad Nacional in Bogotá. Dem counter insurgency program der USA fiel 1965 sein Mitdozent und Freund, der katholische Priester und Revolutionär Camilo Torres, zum Opfer. „Damals begann ich Marx ernsthaft zu lesen, um zu verstehen, was da geschah (…) Ich war, wie fast alle Linken damals, ein bunter Vogel, ich war unabänderlich anti-autoritär gestimmt. So konnte ich mir den Marxismus, wider alle Dogmatik und Orthodoxie, so frei und auch eklektisch aneignen, wie Marx selbst seine Wissenschaft betrieben hatte. Und so und nicht anders bin ich an Marx hängengeblieben.“ Dann bis 1966 Lehrstuhlassistent bei Schelsky, habilitierte er bei ihm 1967 für das Fach Soziologie – da war er freilich schon „zunehmend in radikale Politik involviert“ (so höflich seine biografischen Notizen). Wissenschaft als Außenseitertum betitelte er einen Beitrag, dessen Erscheinen im high-science-konservativen Jahrbuch für Sozialwissenschaft (3/1966) doch erstaunte. Solche wie Dankwart Danchwerts, Lars Clausen oder Kai Tjaden gehörten zu dieser Spezies.  Ihn brachten auf den Weg zum marxistischen Außenseiter in der Soziologie brachten ihn vor allem neben seinen Erfahrungen in den USA und Lateinamerika die Kontakte mit der machtbewussten Soziologie der Schelsky, Gehlen und Freyer, die sich auskannten, wenn sie von Macht redeten oder über sie schwiegen. Für Krys gehörte das Interesse an den Reichen und Mächtigen zu seiner Entscheidung, Soziologe zu werden. Die Soziologie dieser Zeit freilich war eine Mittelschichtenveranstaltung, die geschäftig diese selbst und die Unterklassen betrachtete, mit der herrschenden Klasse jedoch einen Nichtangriffspakt eingegangen war. Immer wieder zitierte Krys aus der Rede von Martin Nicolaus auf einer Tagung der American Sociological Association im August 1968 zur „Fat-Cat Sociology“: „That is to say that the eyes of sociologists, with few but honorable (or honorable but few) exceptions, have been turned downward, and their palms upward.“ In der Regel wusste sie gar nicht, dass es so etwas gibt. Für sie hörte die Sozialstruktur mit der oberen Mittelschicht auf. Sie sah sie nicht einmal, die 0, 1 %. Gerade die bundesdeutsche Soziologie war hier eine „verstummte Soziologie“ (Krysmanski). „Elite“, so zitierte er häufig Carl Schmitt, „sind diejenigen, deren Soziologie niemand zu schreiben wagt.“ Und wer diese 0.1 % als kritischer Soziologe und marxistischer Außenseiter und in einem Dutzend radikaler Organisationen und Zeitschriften des linken Flügels thematisierte, galt bei Fachkollegen wie Erwin K. Scheuch als „Kommunistenfreund“.

Berufen in der kurzen Zeit der linken Offensive, war Hans Jürgen Krysmanski von 1971 bis 2001 Hochschullehrer für Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Münster. Er publizierte weit über 100 Langtexte, keine Weißwaschliteratur. Auffällig auch sein wunderbar wirres Beziehungsnetzwerk (siehe etwa die Festschrift Soziologische Ausflüge zum 60. Geburtstag, 1996) oder die zuweilen sehr spöttisch bemalten Zettel, die sein Klassenkampfhandwerk in Forschung, Lehre, Vorträgen, Seminaren und Debatten begleiteten.

In den 90ern transformierte er sich für ein Jahrzehnt zusätzlich zum „soziologischen Filmemacher“ (Krys). Er agierte als Autor und Regisseur von acht größeren Dokumentarfilmen bei Spiegel TV, WDR und NDR, die den Spuren des globalen kapitalistischen Triumphzugs und der geopolitischen Ästhetik der neuen weltgesellschaftlichen Klassenverhältnisse folgten – über die Abwicklung der Interflug, Heiner Müllers Ostberlin, den russischen Militär-Industrie-Komplex, Amerikas Zugriff auf Sibirien, deutsch-deutsche Geheimdiplomatie vor der Wende, Alexander Rudzkoi und der Moskauer Coup 1993. Zeitweise kam damals sein Wortschatz nicht mehr ohne die Rede vom  „Storyboard“ aus. Noch rund ein Jahrzehnt später entwickelte er mit strahlenden Augen an einem langen Nachmittag der Villa Rossa unter den Steineichen der Villa Palagione bei Volterra die Grundrisse eines Storyboards für einen Hollywood-Blockbuster über den 4. Band des Kapitals. Jahre danach (2005) wurden hieraus mehrere Versionen eines coolen Drehbuchs Fünf Tage im Leben von Karl Marx (gemeinsam mit Karl Philip Lohmann). Zahlreiche  Bücher (wie Popular Science), Aufsätze und Forschungsprojekte zur Massenkultur waren der gesellschafts-, medien- und kulturanalytische Spin-off dieses Turns zu den bewegten Bildern. In ihnen kumulierte als Text, was bildseitig eine lebensgeschichtliche Präsenz hatte von heimischen Privatgemälden über die Schaubilder und Schemata seines historisch-materialistischen Histolabiums und eine respektvolle, ironisch-neugierige Begeisterung für die  Weltregierungsbilder des Bureau d’Etudes oder Mark Lombardis Diagrammen bis hin zu seinem  Ringmodell der Machteliten im 0,1 %. Das Imperium der Milliardäre und einer hierzulande wohl einmaligen zwei Jahrzehnte überdauernden (post-)professoralen Homepage-Bastelwebpräsenz an der Universität Münster, an der sich heute noch die langen Browserwellen von Gopherspace zu Mosaic, Netscape und Mozilla ablesen lassen. Seine dortige Webkompilation in Sachen herrschender Klasse und Reichtum sucht ihresgleichen. Die Idee des Ganzen war: Eine Politik soziologischer Imagination müsse als Verdichtung kulturökonomischer Kompetenz und geopolitischer Ästhetik zur Bildung eines radikal anderen Blicks auf die eine Welt des imperialen Kapitalismus beitragen und, weiterreichender noch, zu den Zukunftsahnungen von allgemeiner Arbeit und allgemeiner Geldware trete nun noch das Internet als Instrument und Form einer allgemeinen Vermittlung, also als Medium der Vergesellschaftung, das auch neue Möglichkeitsräume schaffe. „Es gehört eben“, meinte er rückblickend zum Neubeginn seiner soziologischen Imagination der postmodern-neoliberalen Macht anfangs der 00er Jahre, „auch zum Power Structure Research, dass er Spaß machen kann oder sonst wie in Kultur übergeht.“

Er sSoziologiechrieb anhaltend in der Utopie kreativ (konkret), LuXemburg, Z, Argument, Wissenschaft und Frieden, den Blättern u.a., lange Zeit auch im Pahl-Rugenstein-Verlag. Er war Autor, oft auch Mitherausgeber oder Beiratsmitglied, etwa im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für marxistische Studien und Forschungen. Er versäumte nie, unter seinen Organisationsmitgliedschaften neben der Rosa Luxemburg Stiftung, dem wissenschaftlichen Beirat von attac oder dem Bund demokratischer WissenschaftlerInnen  auch seine komplett unhonorige Mitgliedschaft im Präsidium des Weltfriedensrates und in der Weltföderation der Wissenschaftler hervorzuheben. Schließlich gehörte Krysmanski beispielsweise zu den „nachweisbar“ 21 westdeutschen und westberliner “Kommunisten und SED-Sympathisanten“, die als Besucher mindestens einer Veranstaltung der DDR-Akademie für Gesellschaftswissenschaften in den 80ern identifiziert werden konnten.

Ab 2013 erweckte er übrigens zumindest mir gegenüber den Eindruck, sich von seinem über Jahre hinweg nicht mehr bewegten uralten Mercedes getrennt zu haben.

Krys verlässt das EmpireWer mit Krys zu tun hatte, entdeckte bei allen seinen Neubeginnen ein paar lebenslange Kontinuitäten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte seine Familie in Salzburg, wo er erstmals mit Amerikanern in Kontakt kam. In dem südhessischen Dorf in der amerikanischen Zone, in das sie dann kamen, setzte sich das fort. Im Unterschied zu vielen anderen später linksorientierten Wissenschaftlern gelangte er dann als Siebzehnjähriger 1952/53 in das Schüleraustauschprogramm des US-Hochkommissariats (HICOG) zuerst nach Detroit und später in die Kleinstadt Mancelona (Michigan). Neben der kulturellen Erfahrung von Leichtigkeit und Offenheit tauchen in einer seiner wenigen publizierten Erinnerungen an diese Zeit Stichworte wie Reichtum, Provinzialität, Rassismus oder die schiere Größe des Landes auf, die seitdem die USA für ihn „in jeder Hinsicht“ zu einer „zentrale Größe“ werden ließen. In den folgenden sechs Jahrzehnten lässt er von dieser „zentralen Größe“ nicht mehr ab. Das betrifft die USA und ihre imperiale Macht in der Welt als Gegenstand sozial- und kulturwissenschaftlicher Analyse und die verschiedensten Sparten der Reflexion gleichermaßen, die das mächtigste national-globale Wissenschaftssystem seit dem Zweiten Weltkrieg und danach produzierte, das wie kein anderes getragen war von Militär und Kapital. Er reist häufig in die USA und nach Kanada und führt dazu Dutzende Lehrveranstaltungen durch. Seine in den 60er und 70er Jahren u.a. mit K. H. Tjaden ausgearbeitete historisch-materialistische Gesellschaftsanalyse theoretisiert globale Konfliktstrukturen immer wieder am Exempel der USA, und bei seiner Rezeption des damals kleinen, aber wachsenden kritischen  Strangs der US-Soziologie wird die 1956 publizierte Power Elite von Charles Wright Mills zu einem zentralen Initialtext für die Entwicklung seiner zahlreichen Beiträge zur Klassen- und Machtanalyse, in denen er sukzessive die Vermittlung von Militär-Industrie- und Geldmachtkomplex herausarbeitete. Ihm ging es nicht um das eine als Territorialstaat USA fixierte kontinentalkapitalistische Amerika, sondern auch um das andere Amerika des Americanism, in dessen Kern die „amerikanische Partei“ (Arrighi) und ihre Vektoren standen und stehen, über welche Elemente des US-Staates und der amerikanischen Zivilgesellschaft und Ökonomie sich in die Welt bewegen – als American Empire eben. Auf dieser Grundlage hat er – bis zum hartnäckigen Verfolg zuweilen skurrilster Abweichler aus den Reihen der US-ruling class – versucht, ein realistisches Bild von der Stabilität und Reichweite wie den historischen Grenzen dieser „zentralen Größe“ im planetar globalisierten Kapitalismus zu bekommen. Daher begegnete er der flinken Manier zur zyklischen Beschwörung des US-Decline, die sich zuletzt im vergangenen Jahrzehnt auch hierzulande ausbreitete, mit anhaltender Skepsis und Vorsicht. Beides einzeln und zusammen, die kritische Gegenstandsanalyse und die Aufnahme und Bearbeitung vor allem strategisch-reflexiver Ideen und Konzepte in den USA und den machtfähig platzierten Denkorten in der Welt, wo sich „Amerika“ fand, seine Perspektive insertierte und herrschte, ist im universitären Milieu bis heute eine Ausnahme geblieben.

Und es gab noch eine verlässliche, zähe, bestimmende Kontinuität. Das war der ganz große Frieden – nicht der private, der soziale oder der kriegerische, nicht der kleine Frieden auf Zeit und Gelegenheit, sondern der voraussetzungsvolle Frieden, dem die Alternativen zu sich selbst ausgegangen sind – also das, was einst als Keim der bürgerlichen Revolution in die Welt kam als positiver Friede und als „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ (Charles Irenée Castel de Saint-Pierre, 1713). Auch bei diesem zweiten Lebensthema hatte Krys gleich mehrere Fäden am Wickel: die Produktivkraft Wissenschaft, bei der es anknüpfend um Kriegs- und Friedensursachenforschung ging, oder die Rekonstruktion der Friedensutopien und der Traditionen oder Begründungen einer friedlichen Soziologie, die er in Soziologie des Konflikts (1971) und seinem herausragenden politischen Bildungsbuch Soziologie und Frieden (1993) dabei ganz beiläufig als „Umwälzungswissenschaft“ konzipierte. Eine tiefe Abneigung gegen Gewalt trieb ihn voran. Seine friedenswissenschaftlichen und -analytischen Texte kamen der in den 80ern entstehenden Friedensbewegung mit ihren starken wissenschaftlichen Abteilungen vor allem aus den Natur- und Sozialwissenschaften, der Medizin und Informatik lange zuvor. Also zu spät, da im Medienmarkt längst abgelegt, um noch breit rezipiert zu werden. Seine Texte – und ihr Verfasser – waren aber in den dortigen Aktivistengruppen und ihren neuen Think Tanks und Publikationen über ein Jahrzehnt immer wieder präsent. Die paar Dutzend linker Soziologen freilich, die in Berlin, Kassel, Frankfurt, Marburg, Bremen oder eben auch Münster damals zwar ihre mittlerweile marxistische bzw. historisch-materialistische Disziplinkritik in Bänden wie  Soziologie und Praxis (1979) oder Die Krise in der Soziologie (1975) zu Gehör bringen konnten – wobei Krys die initiierende Schlüsselfigur war – konnten diese Kritik (sieht man von der Arbeits- und Industriesoziologie ab) in der Soziologie, ihren hegemonialen Fachmedien oder in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie bestenfalls in Spurenelementen institutionalisieren – das änderte sich erst wieder auf ganz anderen Feldern in den 00er Jahren. Fachlich und fachpolitisch aber legten sie die Friedens-/Kriegsfrage ad acta – eine der wenigen Ausnahmen war eine Handvoll Soziologen in Münster und auch Marburg. Vielleicht hielt auch deshalb die von Krysmanski in den 90ern – mit ein paar zusätzlichen Euros im geschätzten Gegenwert des Notlandefallschirms einer militärischen Minidrohne ausgestattete – Arbeitsstelle Peace and Conflict Studies (PeaCon) bis etwa 2003 durch. Bei genauerem Hinsehen freilich findet sich im partei- und bewegungspolitischen Raum und Umfeld der Friedensbewegung bis Mitte der 90er Jahre eine ganze Reihe jüngerer organischer Intellektueller, die aus diesem linken sozialwissenschaftlichen Milieu kamen.

Gegenmacht in der PalagioneJe klarer aber in der Reagan-Zeit und der folgenden langen Bush/Clinton/Bush-Ära das neue imperiale Kriegertum der USA und der von ihr dominierten NATO geopolitisch expandierte, desto mehr rückte für ihn ein anderes Thema vollends in den Vordergrund. In seiner Einleitung zu Popular Science schreibt Krys: das „soziologische Hauptthema nach dem Ende des Kalten Krieges ist aus meiner Sicht das Thema ‚Macht und Herrschaft in der Postmoderne’“, also auch im Spät- oder Hyperkapitalismus. Das von ihm erstmals wohl schon Ende der 60er Jahre angerufene “power structure research“ hat über vier Jahrzehnte hinweg seine Gesellschaftsperspektive immer nachhaltiger fokussiert. Seit der Jahrhundertwende dominierte sie. Sie ist die dritte Kontinuität, an die hier zu denken ist. Und sie ist übrigens und im leichten Unterschied zu den erstgenannten Leitideen zum American Empire und dem großen Frieden geradezu komplett bevölkert von Männern: den C. Wright Mills, Göran Therborn, William Domhoff, Ferdinand Lundberg, Dieter Klein oder Val Burris. Um Abweichungen abzuzählen, reicht eine Hand aus. Nicht nur die Macht, sondern auch ihr Lob und ihre Kritik sind bis heute das Kerngeschäft des Patriarchats.

Noch in der letzten Maiwoche amüsierte Krys sich ziemlich höhnisch über Dr. Eric Schmidt („It’s a delight to be here and welcome to our 2016 Shareholder Meeting. My name as you know is Eric Schmidt, I’m the Executive Chairman of Alphabet“ – von Google plus also). Schmidt hatte das zweite Further Future Festival „Burning Man for the 1%“ beehrt und kommentiert: “It’s well documented that I go to Burning Man. The future’s driven by people with an alternative world view. You never know where you’ll find ideas.” Der Guardian hatte schon öfters über dieses unfasslich jämmerliche Partyevent in der Wüste bei Las Vegas berichtet, das sich dem tollen neuen Trend der „tranformational festivals“ zurechnete. Das könne, so spottete Krys, der lang erwartete transformationstheoretische Durchbruch gewesen sein, den die Linke mal wieder verschlafen habe, schließlich sei das Future-Festival seit ein paar Wochen schon Vergangenheit. Wieder einmal zeige sich, wie schwer die Umkehr des flotten Satzes von Evgeny Morozov sei: „Wozu braucht man die Linke, wenn man Google hat?“ Solcher Spott hatte seinen Grund: Der Google-Konzern war für Krys ein herausragendes Exempel der Verknüpfung von blindwütiger, gefährlicher Innovation mit dem Aufbau der Macht der neuen, privaten Souveräne, einem imperial-planetaren Zugriff und fantastischen Möglichkeitserweiterungen nicht nur des Kapitals. Und die Eric Schmidts dieser Welt waren seit Jahrzehnten sein Sujet.

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2012 erschien sein Buch 0,1 Prozent. Das Imperium der Milliardäre, ein Resümee seiner Arbeit an dem Power Structure Research. Der Band verstößt hartnäckig gegen übliche und bewährte Tabus auch der Linken, deren erstes Manko ein nur auf den ersten Blick nachvollziehbares Desinteresse an der Analyse der herrschenden Klassen ist – schließlich ist sie keine Zielgruppe im politischen Tagesgeschäft. Doch hier sprudeln auch Stories und News aus Richistan. Und mehr. Gegen die neue Blüte der Verschwörungstheorien setzt der Text eine Überarbeitung der Klassentheorie und der Theoretisierung der „herrschenden Klasse“, die von ihrer Bindung an die Moderne, den Nationalstaat und die Ignoranz der Ausbildung einer eben postmodernen Weltgesellschaft befreit werden müsse. Vor allem aber holte er mit Verve die Frage des Reichtums wieder in die marxistische Kapitalismus-, Kapital- und Klassentheorie zurück. Wer von herrschender Klasse rede, dürfe von ihrem strukturierenden Zentrum im Kapitalismus der Postmoderne nicht schweigen: dem Komplex der Geldmacht, dem Ort der Privatesten des Privaten und der anderen, neuen, globalen Souveränität: „Souverän ist, wer über die Geldmacht verfügt.“ Dieser eine Ort des Reichtums ist immer ein Ort des Eigentums und ein Auffangbecken für die akkumulierten Werte. Er zieht gleichsam wie ein schwarzes Loch das rasend fluktierende, fluide und sozial veruneinheitlichte Geld der Welt an sich, verwandelt es ständig in Verwertungsmacht und personifiziert es in eine planetar operierende Klassenmacht. Um die soziale Verfassung ihrer Akteursgestalt und Binnenstruktur zu fassen, ist für ihn ein Rückgriff auf neu entworfene, aber alte und hierzulande oft zu Recht in der Wissenschafts- und Politiklinken tabuisierte Begriffe wie Oligarchie, Plutokratie (klassisch: Herrschaft des Reichtums), Direktorat oder die „Ringburg“ (einer quasi refeudalisierten Struktur) sinnvoll. Sie beschreiben ja die Situation einer unkontrollierten Macht, die ununterbrochen neue Ohnmacht bei allen anderen erzeugt. Richistan kennt keine Arrangements mehr, die demokratisch genannt werden könnten.

Hans Jürgen Krysmanski hat mit seiner Umwälzungswissenschaft unseren Blick auf Imperien, auf ihre Kriege, auf Richistan und ihre Geschichte verändert – neugierig, spöttisch, lachend, skurril, charmant, klug, tückisch, gebildet, nachdenklich und auf alle Fälle in Schwarz, meistens mit Rundgläserbrille und manchmal als Irrläufer, in Cowboystiefeln, der durch alle Praxen, Theorien und Imaginationen zappte und surfte, die er kriegen konnte. „Une autre fin du monde est possible“ stellte jüngst ein Nuit Debout-Graffiti richtig. Ein Ende ohne ein Vorleben in Krys grüßteinem Imperium der Milliardäre wäre ein guter Anfang – auch für eine letzte Reise.

 

 

 

 

 

 

{Eine erweiterte Fassung ist in Z 107 (September 2016, S.115-123) unter dem Titel "The view from above - aber von unten.Hans Jürgen Krysmanski 1935-2016" erschienen; ebenso in der Zeitschrift "Das Argument" ("Hans Jürgen Krysmanski 1935-2016" i.E.) sowie im "Forum Wissenschaft" 3/2016 S.58-59 ("Auf der letzten Reise: Hans-Jürgen Krysmanski (1935-2016)" des BdWi.} Siehe auch "Hans-Jürgen Krysmanski,1935-2016" auf der Website der Rosa Luxemburg Stiftung.
Photos: Godela Linde.
In der "Jungen Welt" vom 05.07.2016 hat Bernd Drücke einen Nachruf publiziert "Krys ist tot", ebenso am 30.6.2016 Nils Zurawski für das Münsteraner Institut für Soziologie, der hierzu noch ergänzende Bemerkungen auf surveillance studies.org schrieb. Auch "Soziologie heute" hat einen Hinweis publiziert. Dietmar Wittich hat im "Neuen Deutschland" vom 6.7.2016 mit "Grenzgänger" ein Gedenken an Hans-Jürgen Krysmanski geschrieben.In der wöchentlichen Kolumne auf Linksfraktion.de hat Sarah Wagenknecht am 19.07.2016 mit "Kritische Reichtumsforschung - so dringend wie nie" an ihn erinnert.
Die im Text erwähnte PeaCon-Website, die im letzten Jahrzehnt stark von Krys gestaltet wurde, ist mithilfe von Kollegen der Universität Münster auf absehbare Zeit weiter zugänglich.

Wolfgang Abendroth: Der gemeinsame Kampf mit den Griechen

Wolfgang AbendrothAus naheliegendem Anlaß als Erinnerung ein kleiner Text von Wolfgang Abendroth („Der gemeinsame Kampf mit den Griechen“), der in den Informationen 2 / 1979 des „Studienkreises zur Erforschung und Vermittlung der Geschichte des deutschen Widerstandes 1933-1945“ publiziert wurde.

(Auf Anregung & mit Unterstützung von Christoph Jetter und Hanni Skroblies -> siehe auch das Projekt Gedenkorte Europa; die Fotografie stammt von Peter Werner. In Heft Nr. 63 vom Mai 2006 S. 4-11 ist ein Bericht publiziert "Wolfgang Abendroth im griechischen Widerstand. Nach Texten von Wolfgang Abendroth." Zusammengestellt von Friedrich Martin Balzer - mit 31 Anmerkungen = Nachweisen aus Abendroth-Veröffentlichungen).

Jörg Huffschmid-Preis 2015 ausgeschrieben

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Jörg Huffschmid

Der wissenschaftliche Beirat von Attac-Deutschland, die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, die EuroMemo Group und die Rosa-Luxemburg-Stiftung schreiben im Gedenken an das wissenschaftliche Werk und das gesellschaftspolitische Engagement von Jörg Huffschmid zum dritten Mal den Jörg-Huffschmid-Preis aus. Der Preis für NachwuchswissenschaftlerInnen bezieht sich auf die Bereiche Wirtschafts- und Sozialwissenschaften und ist mit einem Preisgeld in Höhe von 1500 sowie 500 dotiert.

Jörg Huffschmid (19. Februar 1940 bis 5. Dezember 2009) verband in seinen Arbeiten scharfsinnige Analysen mit politischer Vernunft. Als Gründungsmitglied der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik und der EuroMemo Group sowie in seinem Wirken im Wissenschaftlichen Beirat von Attac und der Rosa-Luxemburg-Stiftung war sein Ziel persönlich und wissenschaftlich eine sozialere Gesellschaft, die er auch immer mit Kapitalismuskritik verknüpfte. Mit seinem Wissen und seinen politischen Analysen hat Jörg Huffschmid unermüdlich der angeblichen Alternativlosigkeit des Mainstreams getrotzt. Dieser Preis soll allen ein Ansporn sein, seine Arbeit fortzusetzen. Näheres zu Jörg Huffschmid findet sich in einem Nachruf hier,  ebenso eine Übersicht zu seinen Arbeiten.

Zur Bewerbung um die alle zwei Jahre vergebene Auszeichnung
können Studienabschlussarbeiten (Magister-, Master- und
Diplomarbeiten) sowie Dissertationen eingereicht werden. Zum
ersten Mal werden in diesem Jahr zwei Preise verliehen: eine
Auszeichnung in der Kategorie Dissertationen über 1.500 Euro
und eine Auszeichnung in der Kategorie Studienabschlussarbeiten über 500 Euro. Die Arbeiten sollten dem Feld der Politischen Ökonomie entstammen, zum Beispiel:

  • Finanzmarktpolitik
  • Soziales Europa
  • Rüstungspolitik und Rüstungswirtschaft
  • Privatisierungsdynamiken
  • Globalisierte Arbeitswelten
  • Ressourcen-Ökonomie
 Bewerbungsfrist ist der 30. März 2015. Alle weiteren Informationen im Infoblatt.

Linke Woche der Zukunft

Tanzpopen„Zukunftskommissionen“ sind genauso out wie „Zukunftswerkstätten“ und ähnliche Erfindungen aus den Zeiten, als der Fordismus zu wackeln anfing. Die Zeiten sind nicht so. Doch es gibt auch Ausnahmen. Seit einiger Zeit wird eine „Regierungsstrategie“ aufgesetzt, die unter der Überschrift „Gut leben in Deutschland – was uns wichtig ist“ präsentiert wird. Diese im Koalitionsvertrag formulierte „Regierungsstrategie“ fokussiert auf „Lebensqualität“ und soll den seit 2008/9 stattfindenden Veranstaltungen in Sachen Zukunft der Bundesregierung folgend über ca. 100 Bürgerdialoge und online – Debatten einen Report einer Expertengruppe und ein Indikatorensystem hervorbringen. Das Ganze soll zu guter Letzt in einen Aktionsplan für mehr Lebensqualität in Deutschland einmünden, wahlgerecht natürlich. Um so bemerkenswerter, dass die Linkspartei mittlerweile dabei ist, als „inhaltliches Großprojekt“ eine „Linke Woche der Zukunft“ vorzubereiten, die vom 23. bis 26. April 2015 durchgeführt werden soll. Ursprünglich war noch von einem Kongress die Rede, das avisierte Halbwochenformat gibt hier mehr Spielraum. Auch Fraktion und RLS sollen sich um das Thema bemühen. Etwas überraschend ist im Blog zu der Veranstaltung auch ein Papierfragment von mir gelandet. Wenn ich das richtig sehe, hat es auch die Bundesregierung ziemlich eilig. Mal sehn, wer gewinnt.

Die letzte Reise des Karl Marx

Krysmanski_-_Die_letze_Reise_des_Karl_MarxEs ist modisch geworden, Löcher in Buchcover zu stanzen. Das Büchlein von Hans Jürgen Krysmanski ist da eher halbherzig und gibt nur vor, gleichsam durch ein ovales Zeitloch noch einen Blick auf den entschwindenden, verschmitzt oder fast vergnügt aussehenden Karl Marx zu gestatten, der den Marxisten und Marxforschern in den letzten Monaten seines Lebens erfolgreich entwischt ist. Diese „Letzte Reise des Karl Marx“ in das koloniale Algier & co. hat etwas -> Fabel, Möglichkeit, Quellenkunde, Futuring, Tod, Empathie, Jux, Börse und HISTOLABIUM™ -> …:PeaCon/circle-e1/sld001. Worunter der Autor natürlich seit 2001 „Historical Materialism With A Difference“ versteht. Eine melancholische post-mortem Konfrontation mit dem was kommt in einem abgelebten Leben (Seite 98).  

 

Hans Jürgen Krysmanski: Die letzte Reise des Karl Marx. Westend Verlag Frankfurt 2014, 109 S., 1 letztes Foto Karl Marx. Hardcover. 10 Euro. Erschienen am 11. August 2014. Das Gespräch mit dem Autor vom 15.08.2018 auf WDR 3.

Die „Marburger Schule“

971425_1432041377010817_939454405_nMittlerweile herumgesprochen hat sich die Veranstaltung mit Lothar Peter, dem Autor des letztlich moskowitisch (Lorenz Jäger, FAZ) veranlagten Buches „Marx an die Uni. Die „Marburger Schule“ – Geschichte, Probleme, Akteure“ (PapyRossa 2014 14,90 €) am 3.7. um 20 Uhr im TTZ, Softwarecenter 3, Marburg. Meine Besprechung des Bandes in Z 98 (Juni 2014) ist seit einigen Tagen bei LinksNet online.

Reinhard Kühnl

{2001 meine Danksagung an Reinhard für seine Arbeit im Bund Demokratischer WissenschaftlerInnen unter der fröhlichen Überschrift „Gut gelaufen!“. Die Bilder stammen aus einer frühen BdWi-Tagung, der Ferienakademie in der Villa Palagione und dem ersten Mai  auf dem Marburger Marktplatz.}

Gut Gelaufen!

Wissenschaft, wie sie sich in der bürgerlichen Gesellschaft erfunden und etabliert hat, dann auch rasch  sei`s mit oder ohne moralischem Raissonement sehr mächtig und milliardenschwer wurde, hat sich ebenso erfindungs- und erfolgreich durch eine Fülle von Organisationen und Institutionen eingerichtet und auf Dauer gestellt. Diese sind das zähe Skelett dieser Unternehmung, deren Wirkungen, Leistungsfähigkeit und Versprechungen geradezu ungebrochene Expansion garantieren, übrigens ständig neu munitioniert aus dem Argumentationsreservoir einer äußerst geschichtsbewußten Kultur, zu der ja auch erfolgreiches Beschweigen der eigenen Geschichte und einschlägiger Taten gehört. Neuerdings ist das Schweigen durch lebhafte Entschuldigungs- und Verzeihungsrethoriken abgelöst worden, deren letztes Beispiel der Präsident der Max-Planck-Gesellschaft Markl vor wenigen Tagen gab, als er sich in der FAZ vom 18. Juni 2001 auf einer ganzen Seite ganz besonders entschuldigte dafür, dass die deutsche Spitzenforschung, die er repräsentiert, es ein halbes Jahrhundert versäumt habe, ihre verbrecherische Rolle im faschistischen Wissenschaftssystem  aufzuarbeiten.

Dumm gelaufen, schade eigentlich, tut uns leid, soll nicht wieder vorkommen, bitte um Verzeihung.

Die Macht, welche sich in den dominanten Akteuren der Wissenschaft konzentriert, war fast immer Garant dafür, dass sie bekamen, was sie wollten, sie tun und lassen und sagen konnten, woran sie interessiert waren, und die eigenen Reihen einigermaßen in Ordnung hielten. Und bis heute ist die Inszenierung des Politikfreien, Politikfernen, eines vorgeblichen Desinteresses an Macht also und der eigentlich unpolitischen Hingabe an den Prozess der Wahrheitsfindung und –vermittlung das selbstverständlichste und effizienteste Mittel, die eigenen Angelegenheiten erfolgreich zu plazieren. Das mag einer der Gründe dafür sein, warum uns ein Blick auf die Organisations- und Institutionengeschichte der Wissenschaft der vergangenen zwei Jahrhunderte so wenige, und erst recht so wenig überlebensfähige Organisationen zeigt, die an der Schnittstelle von Wissenschaft und Politik operieren und die notwendig waren, um die Politik der Wissenschaft umzusetzen. Sie wurden eigentlich nur gebraucht, wenn es um Opposition der eher Ohnmächtigen ging.

Reinhard Kühnl hat vor so gut 33 Jahren eine solche Organisation ohne Macht mitgegründet, in ihr an herausragender Stelle so gut die Hälfte seines Lebens politisch-wissenschaftlich gearbeitet und mit diesem auch für diesen Verband einmaligen Engagement ihn stark geprägt, also geholfen, dass er auch heute noch dasselbe wie damals ist: ein zwar kleiner, aber gleichwohl der größte linke unabhängige politische WissenschaftlerInnenverband der Bundesrepublik.

Reinhardvimg2038 - KopieDem Gründungsvorstand dieses 68`er Bundes demokratischer Wissenschafter gehörten Düker und Jens, Klafki, Habermas, Sandkühler, de la Vega und Abendroth an. Nicht geschafft hatten es Oskar Negt mit drei und Frank Deppe mit immerhin 5 von 18 möglichen Stimmen. Reinhard Kühnl war damals nicht dabei, in einem öffentlichen Dokument des BdWi findet sich sein Name laut Archiv jedoch schon früh in einem Aufruf in Sachen hessischer Hochschulgesetzgebung, dessen Fortsetzungen dann übrigens einen Dissens mit Jürgen Habermas bewirkten und die innere Ungleichzeitigkeit eines demokratischen Ordinarienverbandes dokumentierte.

Solche Unterschriften erfolgten damals übrigens in aller datenschützlerischen Unbefangenheit mit Name und Adresse, Reinhard Kühnl hat damals im Sohlgraben 18, 3554 Cappel gewohnt. Als dann die auslaufende Hochschulkulturrevolte mit ihrem zuweilen relativ radikalreformistischen Kern, der Assistentenbewegung, eine Neugründung des BdWi im Februar 1972 mit sich brachte, wohnte Reinhard offenbar nun in 3551 Wehrda, Unter den Eichen 33 und erhielt auf dem Gründungskongress von 352 Stimmen mit 284 die Meisten, 4 mehr als Walter Jens und 43 mehr als Georg Fülberth. Das BdWi-Archiv dokumentiert dann nur noch zweimal einen Ortswechsel – Erfurter Str.20 und Sonnhalde 6 – und mit gleichmütiger Monotonie Deine Mitgliedschaft im engeren, also tatsächlich arbeitenden Bundesvorstand des BdWi (bis 1975 und dann wieder ununterbrochen ab 1982 bis hinein ins nächste Jahrtausend).Reinhard und Elke Die lange Zeit spricht dafür, dass der Verband Dich gut brauchen und sich auf Dich verlassen konnte. Die Themen der Zeit damals waren Notstandsgesetze und Wissenschaftskritik und Hochschulveränderung, dann Berufsverbote und immer wieder: kein Beschweigen und keine Übungen in Verzeihungselbstexkulpationen, sondern Ursachen- und Verlaufsanalyse und Kritik des Faschismus und Faschistischen und der politischen Rechten. Die erste umfassende wissenschaftliche Analyse der Partei, die nun, nach einem Dritteljahrhundert, einem Verbotsverfahren unterliegt, der NPD, ist auf deine Initiative entstanden. „Wissenschaftler analysieren Konzeption und Funktion von Franz Josef Strauß“ war der Titel eines von Dir stark geprägten Kongresses des BdWi im Juni 1980, um die „Neue Rechte“ ging es in den 80ern wie den 90ern, wieder einmal um Nationalismus in der letzten Herbstakademie des BdWi. Die Artikel von Dir in der Verbandszeitschrift „Forum Wissenschaft“ verhandelten die „Ideologische Motive präfaschistischer Geschichtswissenschaft“ ebenso wie „Nationalismus der Wissenschaft“ oder, vor kurzem, „Judenhass und Judenmord“, daneben immer wieder Texte zum Thema Militär, Kriegsursachen, über die Ermöglichungen von friedlichen Verhältnissen,  dabei immer mit dem Plädoyer für interdisziplinären Zugriff auf das Ganze der Strukturen und Prozesse von Gesellschaft und Politik. Im BdWi war Dein Medium eher das Sprechen als das Schreiben, die Bearbeitung der Spannungen zwischen Wissenschaft und Politik, es zählte auch politische Erfahrung, historisches Wissen in der sehr geschichtsfeindlichen Welt des Politischen und die reflexive Konfrontation mit den krassen Brüchen zwischen den Generationen in den Zugängen zur Politik und ihrer wissenschaftlichen Analyse.

Für Deine Arbeit im BdWi danke ich dir, stellvertretend. Nun sollte ich sicherlich noch etwas auswiegend kritisches sagen. Ich sage  aber nichts.
Ich zitiere statt dessen aus einem BdWi-Forumstext von Dir, aus dem Jahr 1995.

„Wenn wir WissenschaftlerInnen heute dem Zeitgeist widerstehen, riskieren wir allenfalls akademische Karriere, Forschungsgelder, öffentliche Anerkennung und die Teilnahme an Talkshows. Und dieses Risiko ist unsere Sache schon wert. Denn für die Sicherung einer menschenwürdigen Zukunft brauchen wir die Wahrheit über die Vergangenheit. In unserem Lande gerade die Wahrheit über Faschismus und Widerstand.“

Luft zum Atmen

FWVerpasst, da über Wochen offline, habe ich den im BdWi-Forum erschienenen Nachruf auf Walter Jens von Georg Fülberth, der Anfang September 2013 dankenswerterweise ins Netz gestellt wurde („Luft zum Atmen„). Er ruft damit auch ein Stück  „Mentalitätsgeschichte“ (Abendroth) der bundesdeutschen Wissenschafts- und Kommunikationsgeschichte in Erinnerung, dessen Dokumentation fragmentarisch zu nennen eine Übertreibung wäre.

Optionen und ein paar Probleme

grokoEin wohltuender Realismus durchzieht die Zustandsbeschreibung des „linken Projekts“ in dem Beitrag „Für ein völlig neues Crossover“ (Blätter 11/2013), den André Brie, Michael Brie, Frieder Otto Wolf und Peter Brandt verfasst haben.  Ein Politikwechsel ist komplizierter denn je und hat keine soziale Bewegungsbasis. Das „Lager“ jenseits der dominanten CDU/CSU schmilzt kontinuierlich – die arithmetische Konstellation SPD, Grüne und Linkspartei verlor seit 1998 zehn Prozent der Stimmen und liegen nun bei knapp 43 %. Eine politische Kooperation zwischen diesen ist nicht in Sicht, Einstiegsversuche dafür („Crossover“) scheitern seit Jahren krachend. Die SPD operiert im Käfig der CDU, die Hauptoption der Grünen ist schwarzer Entrismus. Sozial weitet sich die politische Demobilisierung der Unterklassen kontinuierlich aus. Politisch hat die CDU/CSU ihre Position dort massiv ausgeweitet, die Linkspartei verlor unter Gewerkschaftsmitgliedern stark. „Optionen und ein paar Probleme“ weiterlesen

Links:Grün

StrategyIn den Postwahl-Aktivitäten hat es ziemlich lange gedauert, bis aus der Linkspartei auch politische Akzente in Richtung Grün formuliert wurden (z.B. Katja Kipping, Tom Strohschneider). Aus diesem Anlaß ein Auszug aus einem im Juni im Kursbuch 174 publizierten Text von mir („Die Linke wählen?“, S.113-123, hier: aus S.118-122), der zum strategischen Sinn dieser Option argumentiert:

Neue grüne Wendungen finden sich weithin, ob in der CDU, der SPD oder der Linkspartei. „Grüner Sozialismus“ war 2012 der Schwerpunkttitel einer Ausgabe der Zeitschrift „LuXemburg“ der Rosa Luxemburg Stiftung und brachte damit fröhlich einen Begriff auf, der in einer Partei, deren Gründungspart als „Partei des demokratischen Sozialismus“ (PDS) auftrat, völlig unüblich war. Spätestens seit den Blockadeaktionen um den G-8-Gipfel in Heiligendamm 2007 ist die Rolle der Ungehorsamen auch weit sichtbar von den Grünen auf die verschiedenen Richtungen der Linken übergegangen, wie die Castor-Kämpfe und Blockupy-Aktivitäten zeigten – die Grünen stehen mittlerweile vor allem für das breit legitimierte Feld der Anti-Atomkraft-Bewegung. Aus der linken Parteistiftung kommen radikale Kritiken von Wachstum und „grünem Kapitalismus“. Ungefähr zeitgleich publizierte die linke Bundestagsfraktion eine dickes Papier („Plan B – Das rote Projekt für den sozialökologischen Umbau“). Die Texte machten verblüffend Karriere, zu einer Konferenz Ende 2012 kamen 400 Teilnehmer. Plötzlich war von einer neuen Hinwendung sozial-ökologischer Linker zu der Linkspartei die Rede – ein Novum in der Geschichte der Nicht-Beziehung zwischen grüner und linker Partei. Tatsächlich gibt es, entgegen der allseits geläufigen Wahrnehmung der Betroffenen und großer Teile der Partei selbst ein der LINKEN offenstehendes gesellschaftliches Potenzial, das sich selbst aus der Distanz durch die Grünen vertreten sieht, faktisch aber zugleich Kernpunkte der Linkspartei-Programmatik teilt. Dieses gesellschaftliche Potenzial inkorporiert die post-68er Begehren und Errungenschaften (in nuce: Subjektautonomie, Feminismus, Ökologie, Bürgerrechtsradikalismus, erweiterter Demokratiebegriff) und ist gleichzeitig offen für die „soziale Frage“. Faktisch steht es zwischen den Grünen und der Linkspartei. In der Linken gibt es zugleich deutliche Ansätze einer strategischen Transformationsperspektive im Kapitalismus und über ihn hinaus, die in the long run auf den „Sinngenerator“ (Georg Bollenbeck) eines grün-sozialistischen Kontrapunkts zu dem (schwarz-)„grünen Kapitalismus“ setzten. Realpolitisch setzen sie nicht auf grüne Eigentümer, sondern auf die Produzenten einer grünen Produktions- und Lebensweise. Organisationspolitisch geht diese Verschiebung zusammen mit Entwürfen einer „gesellschaftlichen“ und „konnektiven“ Partei – hinterfragt also die lang andauernde Stagnation der Partei(re)form in der Linkspartei.

Bei dieser Wendung geht es also um eine linke grün-rote Option, was meint: die Linkspartei ist noch in Gründung. „Richtig Wählen“ heißt hier: eine neue Richtungsmöglichkeit in der aktuellen Umgruppierung des parteipolitischen Spektrums öffnen, ein Momentum, das auf einer Verstärkung der politischen Kommunikation zwischen der Linken und den Grünen baut und zum strategischen Ereignis wird. Hat diese Option Grund und Bestand, dann wird nicht nur die linke Partei sich verändern.

(…) Allerdings sind die kulturellen und semantischen Unterschiede zwischen den weiten und neu wachsenden grünen wie roten Feldern außerordentlich, und sie vertiefen sich. Sie repräsentieren sehr eigene politisch-kulturelle Generationen und wiegen vermutlich schwerer als die Abstände in den Berufsmustern, Kirchenbindungen oder Steuererklärungen. Rechnet man noch den Faktor Geschlecht hinzu, werden habituellen Überschneidungen und politischen Möglichkeitsfeldern enge Grenzen gezogen. Was tun, wenn die einen individualistisch-libertär und die anderen solidarisch-autoritär sind – jeweils aus guten Gründen? Immerhin: Beide Parteien haben eine mobilisierungsfähige Bewegungsbasis und eine soziale oder bürgerliche – also durchaus differente – Kultur des Öffentlichen und Protests. Programmatisch sind sie in der Sozial-, Armuts- und Ökologiepolitik, aber auch der Bürgerrechts-, Verkehrs- und Wachstumspolitik beide links von der SPD, deren gefühlt letzte Idee die Agenda 2010 war und deren strategisches Versagen beim Verteilungsthema geradezu selbstmörderisch anmutet. Die Wendung der Grünen in diese Richtung ist tentativ, labil und sozial wenig abgesichert. Dahinter stehen auch Kalküle auf unterschiedliche Wahloptionen: als Positionierung gegen SPD und DIE Linke zum eigenen Positionsgewinn vor der Wahl, als Interessenkalkül in einem rot-grünen Regierungsbündnis danach oder als Vorarbeit für eine breitere Oppositionsverankerung unter einer Großen Koalition. Andere Konflikte verlaufen quer oder sind stark. Der Grundkonflikt um die „Wachstumspolitik“ wird in beiden Parteien mit wachsender Schärfe ausgetragen. Die Antworten auf die Eigentumsfrage sind unübersichtlich. Grüne und Linke treffen sich realpolitisch – unter Einschluss der SPD und vorsichtiger Gewerkschaftstraditionen – beim Genossenschaftsthema, der Rekommunalisierung, dem solidarischen Wirtschaften und deren Mobilisierung von Lokalismus und Demokratie sowie, wenn es gut geht, erfreulicher Gleichheitseffizienz. Machtloser, aber entwicklungsstärker ist die Kompatibilität der Ansätze der linken Politik des Öffentlichen und der grünen Politik der Commons. Beide thematisieren die Dimensionen der Nutzung und Verfügung, also der Aneignung, und beschränken sich nicht auf die Öffnung von Zugängen. In der politischen Ökonomie des Eigentums freilich gehen die Wege auseinander, ebenso in der Europa- und schwerwiegend in der Gewalt- und Friedensfrage.

Linke und Grüne sind in der herrschenden Postpolitik die politischsten Formationen, denen die strategische Idee eines politischen, sozialen und letztlich auch kulturellen Blocks nicht fremd wäre. Er ist unerlässlich für eine sozialökologisch-radikaldemokratische Transformation. Mittelfristig sind Neuaufbrüche in den Gewerkschaften und eine politisch-kulturelle Stabilisierung der Bürgerproteste gegen große unnütze Projekte und die neuen Ungleichheitsdynamiken der Städte Entstehungsbedingungen einer solchen Konstellation.

Es wird sie immer geben.

In gewohnter Manier häufen sich die Wahlaufrufe in den letzten zwei Wochen vor der Wahl – so auch eine knappe Handvoll zur LINKEN. Freundlich zusammengestellt von derselben Partei unter http://www.die-linke.de/wahlen/wahlkampf/wahlaufrufe/. Zum Teufel: spätestens wenn man sich als äußerst flüchtiges Element einer notorischen Schnittmenge vorkommt stellt sich die Neigung ein, zur Unterzeichnung aller angebotener Auf-Rufe überzugehen. Das hilft allen.

 

LuXemburg

logoFünf Jahre gibt es die Zeitschrift der RLS jetzt. Die Redaktion hat ihr einen gründlichen Relaunch der Website spendiert, die übersichtlicher und großzügiger gebaut ist. Baustelle ist sie auch noch (siehe die Rubrik „Themen“). Aber wichtiger: auf einen Klick finden sich im Archiv alle 15 Ausgaben der Zeitschrift im pdf-Format im open access – runde 2500 Seiten frei zugänglich. Auch von der aktuellen Nummer sind einige Beiträge im Volltext als pdf zu lesen. Mit der neuesten Nummer setzt die Redaktion Veränderungen im Erscheinungsbild und der Zeitschriftengestaltung fort: Ausbau der kleineren Formate, mehr Infos über die AutorInnen, übersichtlicheres Inhaltsverzeichnis, mehr Infos aus der Arbeit der RLS. Voilà!

clara und harald haben gerade nichts miteinander zu tun

Kursbuch174Jüngst stellte ich für eine Veranstaltung in Sachen Zivilklausel und Militärforschung Material zusammen und erinnerte mich mit Grausen, wie mühselig es 1968/1969 war herauszubekommen, an welchen Hochschulen das Pentagon, die NATO, Rüstungskonzerne und natürlich das BMVg damals aktiv waren. Auch jetzt ist Geheimhaltung der Normalfall – aber die vergleichsweise fabelhaft informativsten Quellen dazu waren die profanen Kleinen Anfragen der LINKENfraktion! Und eben lese ich zufällig, dass fast die Hälfte aller Kleinen Anfragen in der letzten Legislaturperiode von der Linken kam: 1464 Stück, nachzulesen im Nachrichtenmagazin clara Nr.29 S.62ff. der Bundestagsfraktion der Linken. Eine Leistung!

Und nebenbei: Wenn Harald Welzer im Kursbuch 174 für Wahlenthaltung plädiert und vollmundig den „Illusionismus der Parteien“ (S.142) geisselt, deren politisches Angebot er „für gegenwartsunangemessen, ja für unverantwortlich und mittelfristig gar für gefährlich hält“, dann frage ich mich wirklich, was an derlei politisch investigativer Informationsrecherche und -politik der LINKEN unangemessen, unverantwortlich und absehbar gefährlich ist. Ein Kreuz ist das!

Wildlife

IMG_1898_2678x2009Wer politische, publizistische wie wissenschaftlich Aktivitäten  und die aktuellen Auseinandersetzungen in der britischen SWP verfolgt die zunehmend zu Zerfallskämpfen werden, wird Florian Wildes Text mit Interesse lesen.