Die 20. Villa Rossa wird vom 20. August 2023 bis zum 25. August 2023 in der Villa Palagione Centro Interculturale – Associazione Culturale bei Volterra stattfinden. Ihr Thema:
Die Bodenschätze des Kapitalismus : die Infrastrukturen.
Warum Infrastruktur? Infrastrukturen stehen für Bedingungen des alltäglichen Lebens.
1875
ist in Frankreich für einen solchen ganz besonderen Schatz ein Wort erfunden worden, das aus der Verknüpfung von „infra“ (Unterhalb) und „structura“ (Zusammenführung) entstand. Gemeint war ein Unterbau (französisch infrastructure), der sich auf die Urbarmachung von Böden und die Beseitigung von Unterschieden durch Messung (Nivellement) im Eisenbahnbau und dann auch die Einrichtungen zur Versorgung etwa mit Wasser, Strom bzw. Energie (Heizung, Licht) und Entsorgung sowie den dazu notwendigen Leitungs-, Straßen und Schienensysteme bezog. Im Englischen beschrieb „infrastructure“ übrigens vor allem die immobilen Bauten und Einrichtungen, die der Mobilisierung und Bereithaltung der Heere dienten.
Es geht um die Schaffung von Zugängen zu materiellen Dingen und Ressourcen des Alltags und ihre Nutzung, aber auch um ausgreifende nicht-materielle Bereichen wie Sorge, Bildung, Gesundheit, Kommunikation oder Kultur als kollektive Güter oder Dienstleistungen. Sie waren zunächst rasch wachsende Kapitalmachtbestände und soziale Ordnungsdienste oftmals auch in öffentlicher Hand, sozusagen ein flottes Kleinkind des Kapitalismus. Die vielfältigen Beziehungen und Verbindung dieser hochgradig ungleich verteilten und oft ausgrenzenden und vulnerablen, immer neu umstrittenen „Lebensadern unserer Gesellschaft“ (van Laak) werden produziert, arrangiert oder auch zerstört, wieder hergestellt, also repariert, weiterentwickelt oder überholt, dann ersetzt, historisiert, sie verschwanden und wurden vergessen. Sie verbreiteten sich ungleichmäßig, wurden auch europäisch, international, globalisiert.
Vor allem seit den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts waren die Worte, der Begriff und die Sachen, um die es immer wieder ging, rasch weit verbreitet: es ging also etwa um Natur, Wasser, Kanäle, Luft, Räume, Energie, Strom, Treibstoff, Heizung, Ernährung, Lebensmittel, Bauten, Rohstoffe, Kies, Sand, Beton, Metall, Rohre, Wohnen, Straßen, Brücken, Transport, Mobilität, Auto, Treibstoff, Entsorgung. Aber auch um Wissen, Papier, Kultur, Gesundheit, Bildung, Kommunikation, Medien, Daten, Internet, Speicher, Institutionen, Logistik, Netze, Regulation, Knotenpunkte…
Doch derlei Bodenschätze (ob als Über- oder Unterbau), diese Infrastrukturen also, galten und gelten vielfach weiterhin als fremde, bloß technische, langweilige, gewöhnliche, normale, oft unsichtbare, graue, dauerhafte und daher selbstverständliche Dinge, die nur dann plötzlich zur Geltung kommen, wenn sie in Krisen, Katastrophen oder Kriegen ihre Wirkung, Konnektivität, Funktion und womöglich sogar auch noch Profitabilität verlieren.
Dann werden sie plötzlich relevant und ihre vielfältige Schlüsselrolle im Alltag wird sichtbar: etwa als am Dienstagabend des 14. Februar 2023 ein für den Datenverkehr (technische Infrastruktur!) der Lufthansa in Frankfurt reserviertes Glasfaserkabel der Telekom (Netzwerkinfrastruktur) bei Bauarbeiten (soziale Infrastruktur) der S-Bahn-Linie S6 (Verkehrsinfrastruktur) in Frankfurt Eschersheim beschädigt und auch noch mit Beton übergossen wurde (graue Infrastruktur), fielen nicht nur Telefon und Internet im Großraum Frankfurt und Teilen Hessens aus (Digitale und Kommunikationsinfrastruktur), sondern auch der Flughafen Frankfurts (Luftfahrtinfrastruktur) wurde gesperrt.
Zu alledem kommen Beiwörter wie: technische, soziale, kritische, militärische, globale oder öffentliche Infrastruktur hinzu.
Bei der diesjährigen „Villa Rossa“ werden diskutiert :
Infrastruktur als „Bodenschätze des Kapitalismus“ –
technische und versorgende
Infrastrukturpolitiken und ihre Akteure und Konflikte
Unvollendet: Die Entdeckung der grünen Infrastruktur
Die Entstehung, Geschichte und Praxis der Infrastrukturen des Militärischen und:
Infrastrukturpolitik als Friedenspolitik?
Aus der Geschichte der Big Infrastructure – Die Rolle der Infrastruktur
im chinesischen Entwicklungsmodell und Bemerkungen zur gegenwärtigen Praxis
Infrastruktur der Villa Palagione. Infrastruktur verstehen. Vor Ort.
Politische Konflikte um Infrastruktur in Italien
Die Infrastruktur – ein weiblicher Blick!
Beton. Massenkonstruktionswaffe des Kapitalismus
Die Infrastruktur der Solidarität
Ökologische Transformation und gewerkschaftliche Interessenpolitik
in der ‚neuen Welt imperialer Geopolitik‘
Mit: Hans-Jürgen Bieling, Günther Bachmann, Jürgen Scheffran, Felix Wemheuer, Meiting Zhu, Andrea Theiß, Godela Linde, Silke Nötzel, Marianne Kolter, Jürgen Bönig, Hans-Jürgen Urban u.a. Erfahrungsgemäß ist die Tagung rasch ausgebucht. Infos und Empfehlungen auf der Website der Villa http://www.villa-palagione.org/d/infos/infos.htm .Wir bemühen uns darum, dass die Veranstaltung wie in den Vorjahren als Bildungsurlaub anerkannt wird. Wer an einer Teilnahme interessiert ist, möge sich per Mail bitte ausschließlich bei Godela Linde (Mail: godelalinde@gmx.de) oder Rainer Rilling (Mail: rilling@outlook.de) melden. Wir freuen uns, Euch auf der 20.Villa Rossa zu sehen. Aktuelle Ergänzungen zur Villa Rossa 2023 : http://www.s-gs.de/wordpress/?page_id=2397 .
Stichwort zur Villa Rossa: Seit 1989 gibt es diesen „Lernort“ (Urban) unter verschiedenen Trägern und mittlerweile mit weit über 1000 Mitwirkenden (die Anzahl der Mitwirkenden – pro Seminarwoche 30-40 Teilnehmer und Teilnehmerinnen- ist begrenzt) und 120 ReferentInnen. Seit 2003 wird dieses einwöchige Seminar von der Stiftung gegenStand und dem ver.di Bildungswerk Hessen durchgeführt sowie von der Rosa Luxemburg Stiftung und Unterstützer*innen gefördert. Näheres zur Geschichte einer Villa findet sich in dem Buch „Mosaiklinke Zukunftspfade“ (2021). In der Historie geht es um Sinngeneratoren, patrimonialen Kapitalismus, Schotterstraßen, Steineichen, Lesungen, Zeit, romantische Bilder und Gefühle – und um Politik.