Da liegen sie vor mir, die „Lebenslagen“.

Ich gebe es lieber gleich zu: es geht um ein Buch, das noch nicht fertig geschrieben ist. Auf dem Umschlag steht das auch ganz ehrlich: es geht um einen „Entwurf“. Die Endfassung kommt also noch. Die vielen Autoren haben aber immerhin schon 364 Seiten geschrieben, Respekt, so etwas würde ich nie schaffen. Und es gibt zahlreiche Schaubilder, Grafiken und Tabellen, und auch noch sage und schreibe 339 Fußnoten! Sieben Anhänge! Darunter ein „Glossar“, whoow! Aber ehrlich: Glossare sind sinnlos. Sie können mir nie etwas erklären, was ich schon beim ersten Versuch nicht verstanden habe, weshalb sie mich bloß deprimieren. Deshalb lese ich prinzipiell keine Glossare, sie zerstören mein Selbstbewusstsein. Es gibt natürlich auch ein Literaturverzeichnis (Gähn) und „Kernindikatoren“. Das sind ein paar Tausend Zahlen und ich bin dankbar, dass es beim „Kern“ bleibt. Aber hier: ein Abkürzungsverzeichnis! Das packt mich sofort. Ich liebe Abkürzungsverzeichnisse. Und tatsächlich: KiGGS („Kinder- und Jugendgesundheitssurvey“) kichert richtig, die Revis sind nicht die Revisionisten sondern bezeichnen die „Reform der Ernährungs- und Verbraucherbildung in allgemein bildenden Schulen“ und dass SELBST ganz einfach „Selbstbewusstsein für Mädchen und Frauen mit Behinderung“ meint – das ist wirklich großartig. Das war es wert, die 364 Seiten.

Nun gut, Schluss damit. Es geht um Ernstes. Ich habe mir die „Lebenslagen in Deutschland. Der 3. Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Entwurf des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales vom 19. Mai 2008“ besorgt, weil nun die Deutschen aus Deutschland ihre Lebenslagen in den Süden verlegen – es ist Urlaubszeit. Es interessiert mich, wohin die Armen und die Reichen in Urlaub fahren, was es sie kostet und ob es vorwärts geht und überhaupt: wie ist die Urlaubslage der Nation? Gibt es eigentlich empirische Untersuchung des Kreises der Urlaubsgefährdeten? Haben wir einen Urlaubsaufschwung und kommt er bei allen an? Greifen die frühkindlichen Programme zur Urlaubserziehung? Konnte die Urlaubslosigkeit reduziert werden? Und was ist mit der strukturellen Urlaubslosigkeit? Wie steht es um die Urlaubshilfe (UHI), bleibt es bei den dürftigen Promille-Steigerungen? Haben sich die Urlaubsberatungsstellen bewährt? Konnte das Risiko der Urlaubsarmut gemindert werden? Gibt es gesundheitliche Risiken durch Urlaubsausgrenzung? Gibt es tatsächlich Urlaubsschmarotzer? Hat sich wenigstens die Auseinandersetzung um den Mindesturlaub gelohnt? Wer ist anspruchsberechtigt? Wäre die Urlaubsgrundsicherung für alle eine Alternative? Oder mehren sich die Anzeichen systematischer Urlaubsbekämpfung? Setzt sich die Politik schleichender Urlaubsprävention fort? Hat sich die Spaltung zwischen Urlaubsarmen, Urlaubsvermögenden und Urlaubsreichen weiter so rasch vertieft wie in den letzten Jahren? Wer sind die Superurlauber? Und ehrlich, die eigentlich heiße Frage: Wer fährt wohin?

Ich blättere und blättere. Mutterschaftsurlaub steht da, Seite 90. So komme ich nicht weiter. Ich werfe die elektronische Fassung des „Entwurfs des 3. Armuts- und Reichtumsberichts“ an und gebe das Stichwort „Urlaub“ in die Suchmaske ein. Da! Auf S.193 findet sich ein Satz: „Familien mit niedrigem Einkommen verzichten so beispielsweise auf Urlaubsreisen und sparen insbesondere an kulturellen und Bildungsangeboten.“ Wer hätte das gedacht, da kann ich auf ein Glossar verzichten. Ich versuche es weiter: „Armut und Urlaub“. „Touris*+Reich*“. Nichts. Vielleicht klappen „Mallorca“ oder „Teneriffa“? Fehlanzeige. Ein letzter Versuch: „Ostsee oder Schwarzwald“. „The item was not found“ erklärt mir mein gecrackter Adobe Acrobat Professional. Hätte ich mir denken können. „Schwarzwald“, da brächte mich keine Arbeitsagentur hin, echt. Ich gebe „Söder“ ein – die eklige CSU-Labertasche hatte doch vor ein paar Monaten den HARTZ-IV-Empfängern den Urlaubanspruch streichen wollen – aber die Suche läuft durch. Ob sich dieser Söder jemals in den Urlaub abmelden musste und so „von der Verfügbarkeit befreit“ werden konnte, wenn seine Arbeitsagentur es so wollte? Und was ist, wenn er länger als drei Wochen von der CSU „ortsabwesend“ war und kein ALG II mehr bekommt, es sei denn er war so schwer erkrankt dass er „nicht transportfähig“ war? Söder nicht transportfähig?Ich spüre meinen uralten CSU-Sadismus in mir. Daran könnte ich echt arbeiten – einfach „Söder“ und „Urlaub“ zusammen denken.

Stopp. Wieso komme ich überhaupt auf Sado-Söder? Es ging doch um den Armuts- und Reichtumsbericht des Bundesministers Olaf Scholz. Dem nehme ich die Vernachlässigung des Urlaubsthemas nicht übel. Vielleicht hat es mit Klimaschutz zu tun. Ich glaube ja, dass er an der Endfassung arbeitet. Oder er ist im Urlaub. Ich lösche die Datei, stehe auf und greife mir „Otherland“ von Tad Williams. Vier Bände, ein schickes SF-Fantasy-Märchen. Vielleicht tatsächlich ein Entwurf – eine Vision der Lebenslagen in einem ganz anderen Land mit freier Zeit. Genau: Urlaubssozialismus!

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