Hans Jürgen Krysmanski, am 27. Oktober 1935 in Berlin geboren, ist am 9. Juni 2016 gestorben. Vor zwei Jahren hat er verschmitzt mit seinem schmalen Die letzte Reise des Karl Marx über ein Lebensende getextet, eine historische social fiction. Sein letztes Buch. Sein Leben lang zog er an vielen Fäden des Endes des Kapitalismus, von denen neuerdings so viel die Rede ist. Er mochte das “Always historicize!” (Fredric Jameson) mit Leuten, Worten, Bildern, das „cognitive mapping“ mit den großen Themen und Theorien, wilden Fantasien und neugierigen Assoziationen – den Utopien, Sozialismen, den Kämpfen der Linken, der reflexiven, radikalen, dissenten, außenseiterischen, nützlichen, hilfreichen, materialistischen Wissenschaft, der Science Fiction also, den Produktivkräften und der Hightech, den Big Data und Netzen und den TV-Medien, dem Gewalt-, Kriegs- und Rüstungskapitalismus mitsamt seinem mörderischen Militär-Industrie-Komplex, der globalen Attraktion des ungeheuren American Empire, endlich der Machtstrukturforschung von unten über oben mit dem Fokus auf Eigentumsmacht, Reichtum und der Geopolitik planetarer Imperialität.
Krys promovierte 1961 bei Helmut Schelsky über „Die utopische Methode. Eine literatur- und wissenssoziologische Untersuchung deutscher utopischer Romane des 20. Jahrhunderts“ und schließt: „Einem sozialen Denken, das am status quo, dem „illusionärsten alIer Ziele“, klebt, hilft die utopische Spekulation so auf die Beine; sie lehrt es gehen in einer Welt, die bereits zu rasen beginnt.“ Er war Mitarbeiter an der Sozialforschungsstelle Dortmund, sodann während des Jahres 1964 inKolumbien als Gastdozent an der Universidad Nacional in Bogotá. Dem counter insurgency program der USA fiel 1965 sein Mitdozent und Freund, der katholische Priester und Revolutionär Camilo Torres, zum Opfer. „Damals begann ich Marx ernsthaft zu lesen, um zu verstehen, was da geschah (…) Ich war, wie fast alle Linken damals, ein bunter Vogel, ich war unabänderlich anti-autoritär gestimmt. So konnte ich mir den Marxismus, wider alle Dogmatik und Orthodoxie, so frei und auch eklektisch aneignen, wie Marx selbst seine Wissenschaft betrieben hatte. Und so und nicht anders bin ich an Marx hängengeblieben.“ Dann bis 1966 Lehrstuhlassistent bei Schelsky, habilitierte er bei ihm 1967 für das Fach Soziologie – da war er freilich schon „zunehmend in radikale Politik involviert“ (so höflich seine biografischen Notizen). Wissenschaft als Außenseitertum betitelte er einen Beitrag, dessen Erscheinen im high-science-konservativen Jahrbuch für Sozialwissenschaft (3/1966) doch erstaunte. Solche wie Dankwart Danchwerts, Lars Clausen oder Kai Tjaden gehörten zu dieser Spezies. Ihn brachten auf den Weg zum marxistischen Außenseiter in der Soziologie brachten ihn vor allem neben seinen Erfahrungen in den USA und Lateinamerika die Kontakte mit der machtbewussten Soziologie der Schelsky, Gehlen und Freyer, die sich auskannten, wenn sie von Macht redeten oder über sie schwiegen. Für Krys gehörte das Interesse an den Reichen und Mächtigen zu seiner Entscheidung, Soziologe zu werden. Die Soziologie dieser Zeit freilich war eine Mittelschichtenveranstaltung, die geschäftig diese selbst und die Unterklassen betrachtete, mit der herrschenden Klasse jedoch einen Nichtangriffspakt eingegangen war. Immer wieder zitierte Krys aus der Rede von Martin Nicolaus auf einer Tagung der American Sociological Association im August 1968 zur „Fat-Cat Sociology“: „That is to say that the eyes of sociologists, with few but honorable (or honorable but few) exceptions, have been turned downward, and their palms upward.“ In der Regel wusste sie gar nicht, dass es so etwas gibt. Für sie hörte die Sozialstruktur mit der oberen Mittelschicht auf. Sie sah sie nicht einmal, die 0, 1 %. Gerade die bundesdeutsche Soziologie war hier eine „verstummte Soziologie“ (Krysmanski). „Elite“, so zitierte er häufig Carl Schmitt, „sind diejenigen, deren Soziologie niemand zu schreiben wagt.“ Und wer diese 0.1 % als kritischer Soziologe und marxistischer Außenseiter und in einem Dutzend radikaler Organisationen und Zeitschriften des linken Flügels thematisierte, galt bei Fachkollegen wie Erwin K. Scheuch als „Kommunistenfreund“.
Berufen in der kurzen Zeit der linken Offensive, war Hans Jürgen Krysmanski von 1971 bis 2001 Hochschullehrer für Soziologie am Institut für Soziologie der Universität Münster. Er publizierte weit über 100 Langtexte, keine Weißwaschliteratur. Auffällig auch sein wunderbar wirres Beziehungsnetzwerk (siehe etwa die Festschrift Soziologische Ausflüge zum 60. Geburtstag, 1996) oder die zuweilen sehr spöttisch bemalten Zettel, die sein Klassenkampfhandwerk in Forschung, Lehre, Vorträgen, Seminaren und Debatten begleiteten.
In den 90ern transformierte er sich für ein Jahrzehnt zusätzlich zum „soziologischen Filmemacher“ (Krys). Er agierte als Autor und Regisseur von acht größeren Dokumentarfilmen bei Spiegel TV, WDR und NDR, die den Spuren des globalen kapitalistischen Triumphzugs und der geopolitischen Ästhetik der neuen weltgesellschaftlichen Klassenverhältnisse folgten – über die Abwicklung der Interflug, Heiner Müllers Ostberlin, den russischen Militär-Industrie-Komplex, Amerikas Zugriff auf Sibirien, deutsch-deutsche Geheimdiplomatie vor der Wende, Alexander Rudzkoi und der Moskauer Coup 1993. Zeitweise kam damals sein Wortschatz nicht mehr ohne die Rede vom „Storyboard“ aus. Noch rund ein Jahrzehnt später entwickelte er mit strahlenden Augen an einem langen Nachmittag der Villa Rossa unter den Steineichen der Villa Palagione bei Volterra die Grundrisse eines Storyboards für einen Hollywood-Blockbuster über den 4. Band des Kapitals. Jahre danach (2005) wurden hieraus mehrere Versionen eines coolen Drehbuchs Fünf Tage im Leben von Karl Marx (gemeinsam mit Karl Philip Lohmann). Zahlreiche Bücher (wie Popular Science), Aufsätze und Forschungsprojekte zur Massenkultur waren der gesellschafts-, medien- und kulturanalytische Spin-off dieses Turns zu den bewegten Bildern. In ihnen kumulierte als Text, was bildseitig eine lebensgeschichtliche Präsenz hatte von heimischen Privatgemälden über die Schaubilder und Schemata seines historisch-materialistischen Histolabiums und eine respektvolle, ironisch-neugierige Begeisterung für die Weltregierungsbilder des Bureau d’Etudes oder Mark Lombardis Diagrammen bis hin zu seinem Ringmodell der Machteliten im 0,1 %. Das Imperium der Milliardäre und einer hierzulande wohl einmaligen zwei Jahrzehnte überdauernden (post-)professoralen Homepage-Bastelwebpräsenz an der Universität Münster, an der sich heute noch die langen Browserwellen von Gopherspace zu Mosaic, Netscape und Mozilla ablesen lassen. Seine dortige Webkompilation in Sachen herrschender Klasse und Reichtum sucht ihresgleichen. Die Idee des Ganzen war: Eine Politik soziologischer Imagination müsse als Verdichtung kulturökonomischer Kompetenz und geopolitischer Ästhetik zur Bildung eines radikal anderen Blicks auf die eine Welt des imperialen Kapitalismus beitragen und, weiterreichender noch, zu den Zukunftsahnungen von allgemeiner Arbeit und allgemeiner Geldware trete nun noch das Internet als Instrument und Form einer allgemeinen Vermittlung, also als Medium der Vergesellschaftung, das auch neue Möglichkeitsräume schaffe. „Es gehört eben“, meinte er rückblickend zum Neubeginn seiner soziologischen Imagination der postmodern-neoliberalen Macht anfangs der 00er Jahre, „auch zum Power Structure Research, dass er Spaß machen kann oder sonst wie in Kultur übergeht.“
Er schrieb anhaltend in der Utopie kreativ (konkret), LuXemburg, Z, Argument, Wissenschaft und Frieden, den Blättern u.a., lange Zeit auch im Pahl-Rugenstein-Verlag. Er war Autor, oft auch Mitherausgeber oder Beiratsmitglied, etwa im Wissenschaftlichen Beirat des Instituts für marxistische Studien und Forschungen. Er versäumte nie, unter seinen Organisationsmitgliedschaften neben der Rosa Luxemburg Stiftung, dem wissenschaftlichen Beirat von attac oder dem Bund demokratischer WissenschaftlerInnen auch seine komplett unhonorige Mitgliedschaft im Präsidium des Weltfriedensrates und in der Weltföderation der Wissenschaftler hervorzuheben. Schließlich gehörte Krysmanski beispielsweise zu den „nachweisbar“ 21 westdeutschen und westberliner “Kommunisten und SED-Sympathisanten“, die als Besucher mindestens einer Veranstaltung der DDR-Akademie für Gesellschaftswissenschaften in den 80ern identifiziert werden konnten.
Ab 2013 erweckte er übrigens zumindest mir gegenüber den Eindruck, sich von seinem über Jahre hinweg nicht mehr bewegten uralten Mercedes getrennt zu haben.
Wer mit Krys zu tun hatte, entdeckte bei allen seinen Neubeginnen ein paar lebenslange Kontinuitäten. Das Ende des Zweiten Weltkriegs erlebte seine Familie in Salzburg, wo er erstmals mit Amerikanern in Kontakt kam. In dem südhessischen Dorf in der amerikanischen Zone, in das sie dann kamen, setzte sich das fort. Im Unterschied zu vielen anderen später linksorientierten Wissenschaftlern gelangte er dann als Siebzehnjähriger 1952/53 in das Schüleraustauschprogramm des US-Hochkommissariats (HICOG) zuerst nach Detroit und später in die Kleinstadt Mancelona (Michigan). Neben der kulturellen Erfahrung von Leichtigkeit und Offenheit tauchen in einer seiner wenigen publizierten Erinnerungen an diese Zeit Stichworte wie Reichtum, Provinzialität, Rassismus oder die schiere Größe des Landes auf, die seitdem die USA für ihn „in jeder Hinsicht“ zu einer „zentrale Größe“ werden ließen. In den folgenden sechs Jahrzehnten lässt er von dieser „zentralen Größe“ nicht mehr ab. Das betrifft die USA und ihre imperiale Macht in der Welt als Gegenstand sozial- und kulturwissenschaftlicher Analyse und die verschiedensten Sparten der Reflexion gleichermaßen, die das mächtigste national-globale Wissenschaftssystem seit dem Zweiten Weltkrieg und danach produzierte, das wie kein anderes getragen war von Militär und Kapital. Er reist häufig in die USA und nach Kanada und führt dazu Dutzende Lehrveranstaltungen durch. Seine in den 60er und 70er Jahren u.a. mit K. H. Tjaden ausgearbeitete historisch-materialistische Gesellschaftsanalyse theoretisiert globale Konfliktstrukturen immer wieder am Exempel der USA, und bei seiner Rezeption des damals kleinen, aber wachsenden kritischen Strangs der US-Soziologie wird die 1956 publizierte Power Elite von Charles Wright Mills zu einem zentralen Initialtext für die Entwicklung seiner zahlreichen Beiträge zur Klassen- und Machtanalyse, in denen er sukzessive die Vermittlung von Militär-Industrie- und Geldmachtkomplex herausarbeitete. Ihm ging es nicht um das eine als Territorialstaat USA fixierte kontinentalkapitalistische Amerika, sondern auch um das andere Amerika des Americanism, in dessen Kern die „amerikanische Partei“ (Arrighi) und ihre Vektoren standen und stehen, über welche Elemente des US-Staates und der amerikanischen Zivilgesellschaft und Ökonomie sich in die Welt bewegen – als American Empire eben. Auf dieser Grundlage hat er – bis zum hartnäckigen Verfolg zuweilen skurrilster Abweichler aus den Reihen der US-ruling class – versucht, ein realistisches Bild von der Stabilität und Reichweite wie den historischen Grenzen dieser „zentralen Größe“ im planetar globalisierten Kapitalismus zu bekommen. Daher begegnete er der flinken Manier zur zyklischen Beschwörung des US-Decline, die sich zuletzt im vergangenen Jahrzehnt auch hierzulande ausbreitete, mit anhaltender Skepsis und Vorsicht. Beides einzeln und zusammen, die kritische Gegenstandsanalyse und die Aufnahme und Bearbeitung vor allem strategisch-reflexiver Ideen und Konzepte in den USA und den machtfähig platzierten Denkorten in der Welt, wo sich „Amerika“ fand, seine Perspektive insertierte und herrschte, ist im universitären Milieu bis heute eine Ausnahme geblieben.
Und es gab noch eine verlässliche, zähe, bestimmende Kontinuität. Das war der ganz große Frieden – nicht der private, der soziale oder der kriegerische, nicht der kleine Frieden auf Zeit und Gelegenheit, sondern der voraussetzungsvolle Frieden, dem die Alternativen zu sich selbst ausgegangen sind – also das, was einst als Keim der bürgerlichen Revolution in die Welt kam als positiver Friede und als „Projet pour rendre la paix perpétuelle en Europe“ (Charles Irenée Castel de Saint-Pierre, 1713). Auch bei diesem zweiten Lebensthema hatte Krys gleich mehrere Fäden am Wickel: die Produktivkraft Wissenschaft, bei der es anknüpfend um Kriegs- und Friedensursachenforschung ging, oder die Rekonstruktion der Friedensutopien und der Traditionen oder Begründungen einer friedlichen Soziologie, die er in Soziologie des Konflikts (1971) und seinem herausragenden politischen Bildungsbuch Soziologie und Frieden (1993) dabei ganz beiläufig als „Umwälzungswissenschaft“ konzipierte. Eine tiefe Abneigung gegen Gewalt trieb ihn voran. Seine friedenswissenschaftlichen und -analytischen Texte kamen der in den 80ern entstehenden Friedensbewegung mit ihren starken wissenschaftlichen Abteilungen vor allem aus den Natur- und Sozialwissenschaften, der Medizin und Informatik lange zuvor. Also zu spät, da im Medienmarkt längst abgelegt, um noch breit rezipiert zu werden. Seine Texte – und ihr Verfasser – waren aber in den dortigen Aktivistengruppen und ihren neuen Think Tanks und Publikationen über ein Jahrzehnt immer wieder präsent. Die paar Dutzend linker Soziologen freilich, die in Berlin, Kassel, Frankfurt, Marburg, Bremen oder eben auch Münster damals zwar ihre mittlerweile marxistische bzw. historisch-materialistische Disziplinkritik in Bänden wie Soziologie und Praxis (1979) oder Die Krise in der Soziologie (1975) zu Gehör bringen konnten – wobei Krys die initiierende Schlüsselfigur war – konnten diese Kritik (sieht man von der Arbeits- und Industriesoziologie ab) in der Soziologie, ihren hegemonialen Fachmedien oder in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie bestenfalls in Spurenelementen institutionalisieren – das änderte sich erst wieder auf ganz anderen Feldern in den 00er Jahren. Fachlich und fachpolitisch aber legten sie die Friedens-/Kriegsfrage ad acta – eine der wenigen Ausnahmen war eine Handvoll Soziologen in Münster und auch Marburg. Vielleicht hielt auch deshalb die von Krysmanski in den 90ern – mit ein paar zusätzlichen Euros im geschätzten Gegenwert des Notlandefallschirms einer militärischen Minidrohne ausgestattete – Arbeitsstelle Peace and Conflict Studies (PeaCon) bis etwa 2003 durch. Bei genauerem Hinsehen freilich findet sich im partei- und bewegungspolitischen Raum und Umfeld der Friedensbewegung bis Mitte der 90er Jahre eine ganze Reihe jüngerer organischer Intellektueller, die aus diesem linken sozialwissenschaftlichen Milieu kamen.
Je klarer aber in der Reagan-Zeit und der folgenden langen Bush/Clinton/Bush-Ära das neue imperiale Kriegertum der USA und der von ihr dominierten NATO geopolitisch expandierte, desto mehr rückte für ihn ein anderes Thema vollends in den Vordergrund. In seiner Einleitung zu Popular Science schreibt Krys: das „soziologische Hauptthema nach dem Ende des Kalten Krieges ist aus meiner Sicht das Thema ‚Macht und Herrschaft in der Postmoderne’“, also auch im Spät- oder Hyperkapitalismus. Das von ihm erstmals wohl schon Ende der 60er Jahre angerufene “power structure research“ hat über vier Jahrzehnte hinweg seine Gesellschaftsperspektive immer nachhaltiger fokussiert. Seit der Jahrhundertwende dominierte sie. Sie ist die dritte Kontinuität, an die hier zu denken ist. Und sie ist übrigens und im leichten Unterschied zu den erstgenannten Leitideen zum American Empire und dem großen Frieden geradezu komplett bevölkert von Männern: den C. Wright Mills, Göran Therborn, William Domhoff, Ferdinand Lundberg, Dieter Klein oder Val Burris. Um Abweichungen abzuzählen, reicht eine Hand aus. Nicht nur die Macht, sondern auch ihr Lob und ihre Kritik sind bis heute das Kerngeschäft des Patriarchats.
Noch in der letzten Maiwoche amüsierte Krys sich ziemlich höhnisch über Dr. Eric Schmidt („It’s a delight to be here and welcome to our 2016 Shareholder Meeting. My name as you know is Eric Schmidt, I’m the Executive Chairman of Alphabet“ – von Google plus also). Schmidt hatte das zweite Further Future Festival „Burning Man for the 1%“ beehrt und kommentiert: “It’s well documented that I go to Burning Man. The future’s driven by people with an alternative world view. You never know where you’ll find ideas.” Der Guardian hatte schon öfters über dieses unfasslich jämmerliche Partyevent in der Wüste bei Las Vegas berichtet, das sich dem tollen neuen Trend der „tranformational festivals“ zurechnete. Das könne, so spottete Krys, der lang erwartete transformationstheoretische Durchbruch gewesen sein, den die Linke mal wieder verschlafen habe, schließlich sei das Future-Festival seit ein paar Wochen schon Vergangenheit. Wieder einmal zeige sich, wie schwer die Umkehr des flotten Satzes von Evgeny Morozov sei: „Wozu braucht man die Linke, wenn man Google hat?“ Solcher Spott hatte seinen Grund: Der Google-Konzern war für Krys ein herausragendes Exempel der Verknüpfung von blindwütiger, gefährlicher Innovation mit dem Aufbau der Macht der neuen, privaten Souveräne, einem imperial-planetaren Zugriff und fantastischen Möglichkeitserweiterungen nicht nur des Kapitals. Und die Eric Schmidts dieser Welt waren seit Jahrzehnten sein Sujet.
2012 erschien sein Buch 0,1 Prozent. Das Imperium der Milliardäre, ein Resümee seiner Arbeit an dem Power Structure Research. Der Band verstößt hartnäckig gegen übliche und bewährte Tabus auch der Linken, deren erstes Manko ein nur auf den ersten Blick nachvollziehbares Desinteresse an der Analyse der herrschenden Klassen ist – schließlich ist sie keine Zielgruppe im politischen Tagesgeschäft. Doch hier sprudeln auch Stories und News aus Richistan. Und mehr. Gegen die neue Blüte der Verschwörungstheorien setzt der Text eine Überarbeitung der Klassentheorie und der Theoretisierung der „herrschenden Klasse“, die von ihrer Bindung an die Moderne, den Nationalstaat und die Ignoranz der Ausbildung einer eben postmodernen Weltgesellschaft befreit werden müsse. Vor allem aber holte er mit Verve die Frage des Reichtums wieder in die marxistische Kapitalismus-, Kapital- und Klassentheorie zurück. Wer von herrschender Klasse rede, dürfe von ihrem strukturierenden Zentrum im Kapitalismus der Postmoderne nicht schweigen: dem Komplex der Geldmacht, dem Ort der Privatesten des Privaten und der anderen, neuen, globalen Souveränität: „Souverän ist, wer über die Geldmacht verfügt.“ Dieser eine Ort des Reichtums ist immer ein Ort des Eigentums und ein Auffangbecken für die akkumulierten Werte. Er zieht gleichsam wie ein schwarzes Loch das rasend fluktierende, fluide und sozial veruneinheitlichte Geld der Welt an sich, verwandelt es ständig in Verwertungsmacht und personifiziert es in eine planetar operierende Klassenmacht. Um die soziale Verfassung ihrer Akteursgestalt und Binnenstruktur zu fassen, ist für ihn ein Rückgriff auf neu entworfene, aber alte und hierzulande oft zu Recht in der Wissenschafts- und Politiklinken tabuisierte Begriffe wie Oligarchie, Plutokratie (klassisch: Herrschaft des Reichtums), Direktorat oder die „Ringburg“ (einer quasi refeudalisierten Struktur) sinnvoll. Sie beschreiben ja die Situation einer unkontrollierten Macht, die ununterbrochen neue Ohnmacht bei allen anderen erzeugt. Richistan kennt keine Arrangements mehr, die demokratisch genannt werden könnten.
Hans Jürgen Krysmanski hat mit seiner Umwälzungswissenschaft unseren Blick auf Imperien, auf ihre Kriege, auf Richistan und ihre Geschichte verändert – neugierig, spöttisch, lachend, skurril, charmant, klug, tückisch, gebildet, nachdenklich und auf alle Fälle in Schwarz, meistens mit Rundgläserbrille und manchmal als Irrläufer, in Cowboystiefeln, der durch alle Praxen, Theorien und Imaginationen zappte und surfte, die er kriegen konnte. „Une autre fin du monde est possible“ stellte jüngst ein Nuit Debout-Graffiti richtig. Ein Ende ohne ein Vorleben in einem Imperium der Milliardäre wäre ein guter Anfang – auch für eine letzte Reise.
{Eine erweiterte Fassung ist in Z 107 (September 2016, S.115-123) unter dem Titel "The view from above - aber von unten.Hans Jürgen Krysmanski 1935-2016" erschienen; ebenso in der Zeitschrift "Das Argument" ("Hans Jürgen Krysmanski 1935-2016" i.E.) sowie im "Forum Wissenschaft" 3/2016 S.58-59 ("Auf der letzten Reise: Hans-Jürgen Krysmanski (1935-2016)" des BdWi.} Siehe auch "Hans-Jürgen Krysmanski,1935-2016" auf der Website der Rosa Luxemburg Stiftung.
Photos: Godela Linde. In der "Jungen Welt" vom 05.07.2016 hat Bernd Drücke einen Nachruf publiziert "Krys ist tot", ebenso am 30.6.2016 Nils Zurawski für das Münsteraner Institut für Soziologie, der hierzu noch ergänzende Bemerkungen auf surveillance studies.org schrieb. Auch "Soziologie heute" hat einen Hinweis publiziert. Dietmar Wittich hat im "Neuen Deutschland" vom 6.7.2016 mit "Grenzgänger" ein Gedenken an Hans-Jürgen Krysmanski geschrieben.In der wöchentlichen Kolumne auf Linksfraktion.de hat Sarah Wagenknecht am 19.07.2016 mit "Kritische Reichtumsforschung - so dringend wie nie" an ihn erinnert.
Die im Text erwähnte PeaCon-Website, die im letzten Jahrzehnt stark von Krys gestaltet wurde, ist mithilfe von Kollegen der Universität Münster auf absehbare Zeit weiter zugänglich.