Über Intellektuelle [Der Bourdieu der Linken].

Jener, der Nein sagte.

Pierre Bourdieu. Photo: Bernard Lambert, Journal Forum, Université de Montréal, 1996Der Bourdieu der Linken war derjenige, der Nein sagte – „celui qui disait non“. Dieser Bourdieu steht für eine Politik der Zurückweisung, die zwei radikalen Projekten galt, für welche eine Margret Thatcher die apodiktischen Formulierungen gefunden hat: „There is no such thing as society“ und „There is no alternative“. Bourdieu widersprach dem als Soziologe, der die Möglichkeit einer kritischen, auf Gesellschaft zielenden Gegenstandsbestimmung seines Fachs sichern und ebenso die neoliberale Übermächtigung des Sozialen durch die Ökonomie zurückweisen wollte. Er sprach auch als politischer Intellektueller, der die Dimension der Reproduktion und Produktion der gesellschaftlichen Verhältnisse, also der Veränderung und Alternativität offenhalten wollte.

Soziologie ist ein Kampfsport, so formulierte er demgegenüber, zur Selbstverteidigung. Eine wissenschaftspolitisch sehr sinngebende Formulierung: Soziologie als Modus der Selbstverteidigung, schließlich geht es in der Soziologie und in Sachen Soziologie um Macht. Diese Formulierung ist vieldeutig. Soziologie ist ein Feld, in dem um Macht gekämpft wird (und es soll dabei eben fair zugehen). Die Soziologie selbst gilt es zu verteidigen gegen die neoliberale Inwertsetzung. Und Soziologie ist ein Medium des sozialen und politischen Kampfes – es soll hier eben nicht um die dekorative Ausschmückung der Varietäten des neoliberalen Kapitalismus gehen. Gehen wir kurz diesem Selbstverständnis weiter nach.
In seiner (wohl letzten öffentlichen) Rede vor griechischen Wissenschaftlern und Gewerkschaftsvertretern im Mai 2001 in Athen hat sich Bourdieu gegen die gängige Dichotomisierung von scholarship und commitment gewandt, die seit jeher gegen eine solche Praxis der Selbstverteidigung in Stellung gebracht wird. Er anerkennt hier ein Problem, geht aber davon aus, dass dieser Widerspruch produktiv bearbeitet werden kann. „Tatsächlich“, sagte er, „müssen wir als autonome Wissenschaftler nach den Regeln der scholarship arbeiten, um ein engagiertes Wissen aufbauen und entwickeln zu können, das heißt, wir brauchen scholarship with commitment.“ Um wirklich engagiert zu sein, „muss man Wissen in engagiertes Wissen überführen.“ (Le Monde Diplomatique v. 15.2.2002)
Dies ist der Schritt zum politischen Wissen, zu einem Wissenstypus, der reflexiv ist und sich sowohl seiner sozialen Positionierung in einem kulturellen Feld als auch seines politischen Wirkungszusammenhangs in einem Raum der Macht bewußt ist. Beim Lob der Kultur der scholarship stehen zu bleiben bedeutet natürlich im Elfenbeinturm zu verbleiben; mit den Mitteln der scholarship in einem weiteren Schritt soziale und politische Reflexivität aufzubauen beharren heißt noch nicht, den Weg zum engagierten Wissen vollends zurückgelegt zu haben. Hinzukommen muss die kritische Qualität der Reflexivität und eben ein commitment, also ein Moment der Subjektivität, das jenseits der Regeln der scholarship einen Bezug und eine Zielsetzung moralischer, ethischer, ideologischer oder politischer Qualität formuliert und das sich dabei auch zugleich nicht nur auf eine (oder seine) Öffentlichkeit kapriziert, sondern eine Interaktion mit sozialen Subjekten konzeptualisiert und praktiziert, die in solchen Zielsetzungen der Emanzipation jeweils eine historische-konkrete Rolle spielen.

Intellektuelle: Templates

Es sind wohl Formulierungen wie diese, die viele veranlaßten, in Reaktion auf seinen Tod im Januar 2002 Bourdieu als „einen der letzten Intellektuellen des 20. Jahrhunderts“ zu bezeichnen. Nicht viele brachten die dumm-üble Infamie des Michel Houellebecq auf, für den sein Tod „kein großer Verlust“ war. [An diesen Zynismus hat dankenswerterweise Jens Kastner: Theorie und Kampf, in: ak 514 v.16.2.2007 S.13 erinnert]. Ging nun wirklich, so wäre zu fragen, mit dem Tod des Intellektuellen Bourdieu ein Stück mehr eine Geschichte zu Ende, die vielleicht mit einem Voltaire begann, deren Template für das letzte Jahrhundert die Alfred-Dreyfus-Affaire 1898 war und die anhand von Namen zu umreißen hier unmöglich ist?
Zweifel sind angebracht. Intellektuelle sind zweifellos schon immer im decline, im Niedergang. Mehr noch: sie sterben aus, seitdem es sie gibt. Sie werden dann immer sehr melancholisch. Schon Foucault proklamierte das Ende des universellen Intellektuellen, der als Sprachrohr von Wahrheit und Gerechtigkeit äußerst autoritativ Festlegungen von der Ästhetik oder der Ethik bis hin zur Politik und der korrekten Gestaltung des guten Lebens zur Sprache brachte und als Kommentator der Kultur agierte, sich also als engagierter Teilhaber am öffentlichen Leben verstand, wobei er seine eigentliche Fachkompetenz und Qualifikation systematisch und „gravierend“ (Bourdieu) übertritt. Das Template Sartre also, dem Foucault hier eine Absage erteilte, nur um ein eigenes Template an seine Stelle zu setzen. Im Verlauf der Zeit wandelte sich dann – vorgeblich – die Rolle des Intellektuellen vom Gesetzgeber („Legislator“) des guten Lebens über den erzählenden Interpreten („Interpretator“) und Übersetzer („translator“) der Zeit und Gegenwart zum bloßen Techniker der blasigen „Kompetenzzentren“ oder gar unparteiischen Moderator („Moderator“), der gerade mal noch von Dritten präsentierte instrumentelle Problemlösungen arrangiert. Von der „Verantwortung“, jenem Schlüsselbegriff zum Verständnis des Intellektuellen aus den 60er und 70er Jahren, ist kaum noch die Rede. [S. Noam Chomsky: The Responsibility of Intellectuals, in: New York Review of Books v. 23.2.1967; Rainer Rilling: Die „Krise der bürgerlichen Wissenschaft“ und die Verantwortung des Wissenschaftlers, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 10/1975 S.1125-1146].
Alle diese Charakterisierungen sind sich aber übrigens einig darin, dass Intellektuelle sich an eine Öffentlichkeit wenden – sie sind von Grund auf public intellectuals. [Stefan Collini: Absent Minds: Intellectuals in Britain, Cambridge 2006, hat dieses kulturelle Verständnis (im Unterschied etwa zu soziologischen, psychologischen oder politischen Bestimmungen) stark gemacht: „who deploy an acknowleged intellectual position or achievment in addressing a broader, non-specialist public“ (S.47) [s.a. hier]. Der „Guidance about how to live“ sei es, der die Intellektuellen so nachkämen. Das in der Dreyfus-Affaire entstandene machtvolle Bild des Intellektuellen hat demgegenüber das Politische in den Vordergrund geschoben. Julien Benda hat in seinem klassischen Text vom Trahision des Clercs von 1927 dies aufgegriffen: nach ihm bestand der Verrat darin, dass sich die abstrakten Raisonniers in Repräsentanten der Nationen, des Volkes oder der Klassen verwandelten. Die intellektuelle Organisierung der Leidenschaften, die Bewegung der Massen und damit das Agieren in einem vorweg als politisch begriffenen öffentlichen Raum war ihre Profession geworden.]
Die letzte Mythologie vom Niedergang des Intellektuellen greift auch dieses Verständnis an. Sie erzählt uns, dass die Professionalisierung des akademischen Lebens einerseits [S. Russell Jacoby: The Last Intellectuals, New York 2000; Richard Posner: Public Intellectuals: A Study of Decline, Cambridge Harvard University Press 2001], die digitale Zerstreung und Diskursfragmentierung der Medien andererseits die Kraft der Intellektuellen zur einflußschaffenden Fokussierung ihrer Argumente zerstört habe und ohnehin im Zeitalter der Demokratisierung der Bildung und Intellektualität Politiker und Experten gewitzt genug werden, im Feld des Intellektuellen zu räubern und ihm seine Expertise und amateurhaftes Operieren in deren eigenen Feldern gleichermaßen strittig machen. Wozu noch Intellektuelle, wenn sie in der neuen Zeit der Entdifferenzierung alle Spezifik verloren haben? Wozu noch Intellektuelle, wenn die Kapitalmacht so fest wie heute im Sattel sitzt? [S. Jürgen Habermas: Ein avantgardistischer Spürsinn für Relevanzen. Was den Intellektuellen auszeichnet, in: Blätter für deutsche und internationale Politik 5/2006 S.551-557. Auch Habermas geht demzufolge von dieser Ausgangsbestimmung aus, dass Intellektuelle „von ihrem beruflichen Wissen jenseits ihrer Profession einen öffentlichen Gebrauch machen.“ (S.553) – und diese Öffentlichkeit wird zerstört. Woher allerdings die im Titel seines Beitrags hoffnungsvoll genannte „einzige“ noch auszeichnende Fähigkeit denn eigentlich kommen sollte, wenn der Mahlstrom der Entdifferenzierung alles einebnet, bleibt offen].

Bourdieu & Intellektuelle

Bourdieus kritisches Verständnis des Intellektuellen war anders. Von den Rollen des organischen, universellen, spezialisierten oder postmodern beliebigen Intellektuellen oder den Figuren soziologisch oder klassentheoretisch bestimmter Intellektuellen (wie etwa der operaistischen Idee des Massenintellektuellen) grenzte er sich theoretisch, keineswegs aber praktisch ab. Seine eigene wirkliche, praktische Rolle als Akteur in jenen Räumen und Feldern, wo um intellektuelles Kapital gekämpft wurde und eben auch dort, wo es öffentlich ins politische Spiel gebracht wurde, ist daher auch einer der wesentlichen Gründe dafür, dass ungeachtet vielfältiger Brechungen die Linke und Bourdieu sich einander wechselseitig erkannten und anerkannten.
Bourdieu war sicherlich nicht der Meinung, dass die langen Pässe im Spiel der Intellektuellen nur von der linken Spielhälfte aus geschlagen werden. Er hat vielmehr die Konstitutionen und Reproduktionen der intellektuellen Felder untersucht, mitsamt den großen Täuschungen, denen die Eingeborenen dort so gerne zum Opfer fallen – oft sehen sie nicht, dass das eigene nicht universal ist, sondern eben partikular. Er versuchte, den Gedanken der Autonomie mit der Möglichkeit des Moments der Universalität und ihrer Werte zu verbinden und so anspruchsvolle Widerständigkeit aus der Situation der Partikularität heraus zu begründen. Er hat gegen das Engwerden der öffentlichen Räume und gegen den Angriff der Märkte für die Kultur der Autonomie der sozialen Felder agiert, er hat die sich allerorten vollziehende krude Inwertsetzung nicht nur der immateriellen Arbeit thematisiert und die Okkupation des Molochs Medium zur Formierung der pensée unique kritisiert. Er polemisierte hartnäckig gegen das Verschwinden politischer Alternativen in der Kultur postmoderner Gleichgültigkeit und neoliberaler Marktzerstreuung und er arbeitete wie viele vor ihm an einem linken republikanischen Projekt. Indem er symbolische Formen mit ökonomischen Kategorien neu verknüpfte, wurde er zu einem der wenigen neuen „Denker der Macht“ (Loic Wacquant) in der Soziologie und im grotesk schütteren Feld der Soziologen der Macht der Bourgeoisie.
Doch was hilft dies alles in einer Zeit des Meinungsfragenrankings der 100 lebenden größten public intellectuals, das – wie jüngst in der Zeitschrift prospect geschehen – Papst Benedikt auf Platz 17, Paul Wolfowitz auf Platz 19, Peter Sloterdijk auf einen unverdienten Platz 78 und, in einer etwas älteren Ermittlung, einen der blutigsten lebenden Macht- und Staatsintellektuellen, nämlich Henry Kissinger auf Platz eins der top intellectuals plaziert?

Grenzüberschreitung: ein Template

1993 hat Edward Said zum Thema „Representations of the Intellectual“ gesagt: “…the intellectual is an individual endowed with a faculty for representing, embodying a message, a view, an attitude, philosophy or opinion to, as well as for, a public. And this role has an edge to it, and cannot be played without a sense of being someone whose place is publicly to raise embarrassing questions, to confront orthodoxy and dogma (rather than produce them) (and) to be someone who cannot easliy be co-opted by governments or corporations, and whose raison d´ etre is to represent all those people and issues that are routinely forgotten or swept under the rug.“ (Edward W. Said: Representations of the Intellectual: The 1993 Reith Lectures, New York Vintage 1994, S.S.11-12; s.a. hier).
Dem möchte man aus vollem Herzen zustimmen, doch es sind diese zwar auch bitteren, jedenfalls aber selbstgewissen und selbstsicheren, sehr romantischen, normativen Visionen des Intellektuellen als entfremdetem, ewigem Außenseiter, Dissidenten, Verräter, Migranten und Exilanten, der in einer „politische(n) Kultur des Widerspruchs“ (Habermas) oder im Status der Unabhängigkeit lebt und mit einer heroischen, moralischen, kosmopolitischen oder postkolonialen Geschichte ausgestattet ist (sagen wir also einfach auf den ersten Blick: Typus Toni Negri) – es sind diese Visionen und Geschichten, die uns daran hindern, das heutige politische Potential der Figur des öffentlichen Intellektuellen zu begreifen. Keineswegs sind alle klugen Leute Intellektuelle und nicht alle Intellektuellen sind sonderlich klug. Für den Handel mit Ideen braucht es der Akademiker und der Technologen des Marktes, keineswegs der Intellektuellen. Es ist die Grenzüberschreitung, welche den Habitus des Intellektuellen auszeichnet. Er ist gut im Diversitymanagement. Ambivalenzen begeistern ihn und mit den Logiken der Zugehörigkeit verbindet ihn eine HassliebeH. Er ist eine hybride Figur, oszilliert zwischen Spezialist und Generalist, Insider und Outsider, Funktionär und Held, Leidenschaft und Coolness, Kultur bzw. Wissenschaft und Politik, Macht und Anti-Macht. Seine kulturelle Bewegungslogik wird bestimmt von binären Entgegensetzungen und Widersprüchen einerseits, den Beziehungen seiner speziellen Expertise zu den allgemeinen Medien, den vielen Öffentlichkeiten usw. andererseits. Immer spielt er mit der Vielfalt seiner Rollen, ob nun kosmopolitisch oder postkolonial, akademisch oder autodidaktisch, als Intellektueller der Medien oder der Macht, der Rechtfertigung oder des consens building. In einer Zeit der außerordentlich expandierenden Grenzräume ist die Fähigkeit zum Grenzmanagement nicht nur eine genuin imperiale Qualifikation und Herrschaftstechnologie, sondern auch eine Kulturtechnik, zu deren Beherrschung Intellektuelle ziemlich prädestiniert sind – das verbindet sie eben auf eigentümlich unmittelbare Weise mit den Figuren des Migranten und der Prekären. Nur deshalb können sie aus privaten Problemen öffentliche Fragen machen. Bourdieu, dessen so ungewöhnliche wissenschaftliche Expertise sich in krass verschiedenen geografischen Räumen und sozialen Konstellationen bildete, probierte und repräsentierte eine erstaunliche Fülle dieser Ausflüge in die vielen Gesellschaftswelten des Kapitalismus – die auf dem Netz zugängliche Zeitschrift borderlands ist hier erhellend. Grenzüberschreitung als auszeichnender Bewegungsmodus des Intellektuellen ist für diesen Denker des Feldes allerdings kein hinreichendes Bestimmungsmoment des Intellektuellen gewesen.
Zuweilen freilich verkommt dieses Manöverieren im Raum der Grenzüberschreitung zum ständigen Provokationsspiel, erliegt der Attraktivität der Lust am invasiv-totalitären Übergriff oder die Grenze wird dauerhaft überschritten: dann wird die intellektuelle Person süchtig, ihr Publikum urteilt nicht mehr über ihre Argumente sondern schaut abhängig, ebenfalls addicted, ihrer Selbstdarstellung zu, man sieht sie eben permanent, sie wird prominent, eine celebrity, verkauft sich selbst an Macht, Glamour, Geschwätz und Politik und operiert im schnellen Quotengeschäft des Handels mit allgemeinen Ideen und Symbolen. Sie nistet sich auf Dauer in einem anderen sicheren Feld ein und verabschiedet sich vom Prekariat des Grenzgängertums. Bourdieu verabscheute sie – vor allem die reaktionsschnellen celebrities der politischen Macht, so die sozialdemokratischen Hofschreiberlinge, die Anthony Giddens und Ulrich Beck, bei denen es sich um nichts anderes handele als um „une version intellectuellement dégradée et vulgarisée de la pensée“. [Pierre Bourdieu: Interventions, 1961-2001, Paris 2002, S.471].
Die Bewegungsform der Grenzüberschreitung ist allerdings – für sich genommen – eine politisch richtungsunspezifische Qualität. Sie charakterisiert diese Sorte Kopfarbeiter in Gänze und ist kein Vorgang, der etwa „Links“- und „Rechtsintellektuelle“ voneinander unterscheidet. Man kann in dieser sehr einfachen Bestimmung aber die gegenwärtige Grundvoraussetzung für eine Arbeit an solcher Richtungsspezifik sehen.
Folgt man diesem Gedanken, den Intellektuellen nicht einfach nur als Liebhaber der Bücher und Texte, als Spezialisten fürs Allgemeine und Metaerzählungen, als reputierten Fachexperten oder als sensibel reflexive öffentliche, also schlicht demokratisch-staatsbürgerliche Person zu sehen (die bloß noch durch diesen avantgardistischen Spürsinn für Relevanzen ausgezeichnet ist), sondern begreift man vielmehr diese Figur vor allem als soziale, politische und kulturelle Konfiguration der Grenzüberschreitung, dann wird unmittelbar deutlich, wie wichtig und kompliziert Intellektuelle für die Politik sind. Eine politische Partei, Formation oder Richtung, die sich als widerspruchsfrei, geschlossen und einheitlich inszeniert, ist für Intellektuelle politisch reizlos und langweilig, möge sie nun links, mittig oder rechts sein. Eine Politik der Diversität, des Widerspruchs und der Anerkennung, vielleicht sogar der Pflege der Kultur der Grenzüberschreitung ist hier die einzig erfolgversprechende Option strategischer linker Politik. Der Linken liegt ein solcher Politiktypus immer noch weitaus näher als der Rechten, die außer dem Kitt der Macht (man betrachte die bemerkenswerte Koalition der rechtsimperialen Bush-Administration) [S. Rainer Rilling: Imperialität, in: Kapitalismus Reloaded, Hamburg 2007 i.E.] kein Instrumentarium besitzt, um eine solche Politik zu bewerkstelligen. Ihrerseits sollten linke Intellektuelle begreifen, dass linke Akteure im politischen Raum von der Wissenschaft auch konkret anwendbares Wissen erwarten, das von ihnen definierte – in aller Regel kurzzeitige – Probleme löst oder kurzerhand kommode Lösungen legitimiert. Die unter Partei- und Machtintellektuellen übliche Liebe zur peniblen Arbeit an Programmatiken und ausgedehnten Textkonvoluten ist hier schon lange deutlich kontraproduktiv geworden. Die Zeit dieses Typus der Intellektuellen des politischen Textes ist vorbei. Bourdieu hat in einem Interview mit Haacke erwähnt, dass Intellektuelle im Feld der symbolischen Produktion für die politischen Abnehmer zumeist kaum nütze sind: „…sie seien nicht in der Lage, effiziente symbolische Strategien zu erfinden…Anstatt abstrakte Deklarationen zu machen, müsste man fragen, was man sagen kann, was intelligent, kritisch und symbolisch effizient ist. Diese Dinge lassen sich nicht improvisieren. Und die Intellektuellen sind sehr schlecht darin.“ (…) „…gleichzeitig Instrumente des Ausdrucks (zu) besitzen, die symbolische Kraft haben.“ Interview Pierre Bourdieus mit Isabelle Graw, in: THE THING [] Symbolpolitiken sind komplex, visuell, augenblickszentriert, eventgeladen und verschwindend. Sie stehen so den alten Tugenden der intellektuellen Ansprüche krass entgegen, denn diese favorisieren Texte, starke Begriffe und Beständigkeit. Sie machen Sinn, aber kaum noch für die Politik.

Kollektive Grenzgänger

Mit dem Signum der Grenzüberschreitung soll im Übrigen keineswegs gesagt sein, dass freischwebende Ortlosigkeit für Intellektuelle mehr als Illusion oder selbstgefällige Imagination ist. Sie stehen durchaus für hart erarbeitete sozialkulturelle Orte und Zeiten. Ein Beispiel: in der ersten Hälfte der 40er Jahre des letzten Jahrhunderts waren in Los Angeles die Manns, Brecht, Renoir, Lang, Stravinsky, Schönberg, Feuchtwanger, Werfel, Simmel, Döblin, Adorno, Horkheimer, Dali, Bunuel, Ophüls, Fitzgerald, Parker oder Faulkner – nie aber bildeten sie eine LA-intellectual community. Wie anders die Left Bank im Paris der 30er bis 50er. Der Ort und seine Konstellation im historischen Getümmel zählen. Auch die Neocons sind ein (aktuelles) Beispiel dafür. Die Arbeit an offenen, öffentlichen, wenig stratifizierten sozialen Räumen und Orten der Vergesellschaftung von public intellectuals ist deshalb ein substantielles politisches Projekt der Linken und ihrer, sagen wir: Geopolitik. Auch deshalb ist der Kampf für eine öffentliche Wissenschaft so zentral und immer ein Projekt der Linken gewesen. Die Rechte dagegen plädiert stets für private Wissenschaft mit vermachteter Öffentlichkeit. Deswegen ist es so wichtig, dass die Linke in Europa zur Kenntnis nimmt, dass unter den kapitalistischen Ländern einzig in der politischen Kultur der USA die Rede vom „public intellectual“ dominiert und die Forderung nach einer „public science“, welche die „professional science“, die „policy science“ und die „critical science“ ergänzen müsse, nunmehr zum Programm etwa der American Sociological Association geworden ist. Pierre Bourdieu`s Konzept des kollektiven Intellektuellen skizzierte den Versuch, ein Verfahren der politischen Selbstorganisation von öffentlichen Intellektuellen zu entwickeln: „Es handelt sich einzig darum, ein Organisationsmodell zu entwickeln, das, indem es sich die modernen Kommunikationsmittel (…) so gut wie irgend möglich zu Nutze macht, allen kompetenten Intellektuellen die Möglichkeit böte, öffentlichen Eingriffen, die in jedem einzelnen Fall vom Kompetentesten unter ihnen hinsichtlich des betreffenden Problems auszuarbeiten wäre(n), ihre symbolische Unterstützung zu geben. Das Dilemma von Zentralismus und Spontaneismus fände seine Lösung durch den Aufbau eines regelrechten internationalen Netzwerkes, das sich (…) als ein „Kreis, dessen Mittelpunkt überall und nirgends liegt“, präsentieren würde (Pierre Bourdieu: Die Intellektuellen und die Macht, Hamburg 1991, S.61; s.a. hier). Dieser Netzwerkkreis entwickelt sich langsam, aber immer mehr, ohne sich Bourdieus Lob der Kompetenz als strukturierendes Element zu eigen zu machen. Er kann als das Medium der Sozialfigur des öffentlichen, grenzüberschreitenden, kollektiven Intellektuellen verstanden werden, die – bei allem Vergnügen an der Melancholie – nicht zu den aussterbenden, sondern zu den aufblühenden Arten gehört.

-> wesentlich erweiterter Beitrag zur Tagung Bourdieu und die Linke der RLS am 26./27.1.2007

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2 Antworten auf „Über Intellektuelle [Der Bourdieu der Linken].“

  1. Diese Aufregung über die Hartz 4 Reform ist langsam kaum noch zu ertragen. Wer steigt da noch durch?! Ich finde es unfassbar was für eine Zeitverschwendung die Minister da vollziehen. Wer hat am Ende eigentlich was davon? Etwa der einzelne Hartz 4 Empfänger? Ich denke 5 Euro bringt doch niemandem wirklich was. Aber kosten tut das unfassbare Millionen an Geld. Ich denke der Ansatz sollte ein anderer sein. Das Ziel muss sein, allen wieder einen Job zu vermitteln. Vielleicht sollte man mehr in die Unternehmen investieren.

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