Die aktuellen bürgerlichen, gleichsam klassischen Karten der Macht sind weiterhin partikular, utilitaristisch und mit deutlichen Interessen- und Funktionsperspektiven ausgestattet. Entsprechende rhetorische und metaphernbildende Verrichtungen prägen die Kartenwelt. Die Staaten zeichnen ihre Territorien mitsamt den formellen Machtaufbauten ihrer Souveränität. Sie zeichnen vor allem die Grenzen und ihr Management, denn diese repräsentieren letztlich die eigene raison d`etre, das Politische, manifestieren und organisieren sie doch jenseits konkreter Eigentums- und Machtansprüche die zentrale Unterscheidung zwischen „Innen“ und „Außen“, also insofern auch zwischen Freund und Kontrahent / Gegner / Feind. Sie zeichnen Zentren („Hauptstadt“!) und Peripherie, Raumordnung, politische und administrative Gliederungen, „Landesverteidigung“ und „Justiz“. Der 2006 abgeschlossene 12-bändige „Nationalatlas Bundesrepublik Deutschland“ soll sich so auf „ein Staatsgebiet“ beschränken und gilt, wie die Website formuliert, als „Hoheitsaufgabe des Staates, d.h. die Herstellung oder Finanzierung (soll) durch staatliche Institutionen“ geschehen – vier Bände sind allerdings von Stiftungen (Thyssen, Mercator, ZEIT-Stiftung) gefördert, darunter just jene über „Unternehmen und Märkte“ und „Deutschland in der Welt“. Unter den thematischen Kartenwerken dieses ambitiösen Unternehmens einer post-89er nationalidentifikatorischen Gebrauchsanleitung für Deutschland, an dessen Edition über ein Jahrzehnt lang rund 600 AutorInnen arbeiteten, wird man allerdings wie bei allen anderen aktuell vergleichbaren Nationalatlanten (Kanada, Schweiz, Frankreich, Schweden, USA) durchgängig sechs substantielle Abteilungen durchaus möglicher kartographischer Visualisierung vermissen:
Ø die unmittelbare und mittelbare orientierende Erfassung der räumlichen Dimension von Macht und Herrschaft
Ø die Erfassung, Analyse und Darstellung von Reichtum – die zaghafte Forbes-Karte könnte hier eine kleine Motivation sein
Ø die Untersuchung und Abbildung der räumlichen Konfiguration von Eigentumsbeziehungen, die zwar in den örtlichen Kataster- und Liegenschaftskarten für operationelle Zwecke äußerst penibel vermerkt sind, aber nicht zu einer herrschaftsbezogenen und politikökonomisch sinnhaften nationalen und letztlich transnationalen Datenbasis und einem entsprechenden Verständnis verknüpft werden können
Ø die räumlichen Strukturen des strafenden Staates (Gefängnisse, Camps, Lager etc.)
Ø die sozialen, politischen und kulturellen Konflikte und Auseinandersetzungen zwischen gesellschaftlichen Subjekten (Klassen, Bewegungen etc.) und schließlich
Ø die transnational-imperialen Outlets der Politik und des Kapitals.
Diese externen Outlets und Handlanger, deren Verzeichnung in den Kriegs- wie Appropriationsoptiken der einstigen imperialistischen und kolonialistischen Überlagerungen der Welt so gängig war, kamen in den offizialisierten Bildern der zerfallenden formellen Imperien seit Mitte des letzten Jahrhunderts in aller Regel nicht mehr oder nur noch beiläufig vor. Dies freilich ändert sich nun langsam in der Situation der neuen Raum-Zeit-Kompression des transnationalen Globalkapitalismus.
Jenseits der nationalstaatsgenerierten und –bezogenen raumvisuellen und kartographischen Kultur konzentrieren sich im Zeitalter des von der Weltraumindustrie gepflegten planetaren Blicks [siehe die Ausstellung „Kunstwerk Erde„] die Karten der Staatsmacht in der Regel auf die Diagnose und strategische Planung der Dimension der globalisierten Infrastrukturentwicklung: Ökologiekarten etwa wie jene von UNEP/GRID oder von privater Seite aus die „Kartenmaschine„. Dass sich dabei eigentümliche Ungleichgewichte ergeben, zeigt der berühmte Atlas der Schweiz: er lässt keine Libellenart und deren Lokation aus, dafür aber das bekannte Schweizer Bankwesen [wie die Blicke und Haltungen auch auf die Nationalstaaten ideologisch geleitet sind, zeigt das Projekt Mapping Switzerland, das u.a. Hunderttausende von Newsgroup-Einträgen danach untersuchte, welche Begriffe mit „Schweiz“ konnotiert (s.Beitrag in der Weltwoche 52/52-2004, -> pdf 6,3 MB) wurden]. Gleichwohl zeigt sich hier, welche Fülle öffentlicher Daten vorliegt, die vor allem statistisches Orientierungswissen projiziert und bereitstellt. Global angelegt dann die zahlreichen Karten zur Human Development. Hier geht es um die Kartenwerke internationaler Organisationen, insbesondere der UNO und ihrer Teilgliederungen (z.B. FAO) oder der Weltbank. Typisch sind hier mittlerweile Kopplungsprojekte mit privaten Akteuren wie z.B. das Global Poverty Mapping Project oder das Poverty and Food Insecurity Mapping Project. Auch von privater Seite wird diese Dimension natürlich bearbeitet – beispielhaft, oft originell und zugänglich hier die Werke der Hive-Group oder der Kaiser Family Foundation zur Gesundheit, des Unternehmensberatungsnetzwerks Maplecroft und der Gapminder Foundation. Schließlich geht es der Politik auch in der Zeit des Neoliberalismus um die Herstellung und Sicherung der allgemeinen (nunmehr auch globalen) Bedingungen der Produktion (Akkumulation) und Reproduktion des Kapitals. Eher peripher wird zwar nicht das alte, aber das neue (digitale) Eigentum zum Thema, sei es kommerziell wie bei dem Telegeography-Unternehmen oder wie GovCom sozialkritisch.
Weitaus bedeutsamer auf dem weiten Feld der Staatskarten aber ist die Gewaltkartographie des Sicherheits- und Militärstaates. Im Zeichen der inneren Sicherheit wird Sichtbarkeit und Identifizierung organisiert, um so gegebenenfalls Überwachung und Kontrolle zu ermöglichen. In den sich andeutenden oder bereits ausbreitenden neuen Praxen der Spurensicherung, der Biokontrolle (z.B. elektronische Fußfessel) oder des Biomapping [Zum hier anders verwandten Begriff vgl. das (nicht-militärische) Projekt Christian Nolds. Die Traditionslinien der Psychogeografie sind mit solcher Emotionskartierung verbunden; zum Thema Überwachung Robert O`Harrow: No Place to Hide, New York u.a. 2005] werden nicht nur die bisherigen Privaträume aufgebrochen, sondern auch Wege geöffnet für eine detaillierte zeitnahe Durchdringung sozialer Ereignisse (Versammlungen, Demonstrationen, Aufstände) und technischer Systemoperationen. Crime-Mapping [S. das Forschungsprojekt MAPS („Mapping and Analysis for Public Safety“) des Justizministeriums der USA] und Riot-Mapping breiten sich als disziplinäre Fronttechnologien der Sozialsteuerung und der Implementierung kultureller Alltagssymboliken im Inneren der hoheitlich ihre Verantwortung tragenden Nationalstaaten aus. Die „Unruhen“ oder „Aufstände“ in „den Pariser Vororten“ und „in Frankreich“ wurden nach wenigen Stunden in Karten der Medien dokumeniert, die überwiegend mit dem Flammensymbol operierten. Zu den Kartoon-Riots tauchten ebenso rasch google-earth-Karten auf. Sie markieren jene Privatisierung des öffentlichen Raums, die von einem rechtfertigungsabstinenten Staat betrieben werden kann. Zuweilen bietet er auch Farbkarten seiner Gefängnislandschaften. Ohnehin boomt Justice Mapping und Mapping Crowds – ob nun Demonstranten, „Jugendliche“ oder „Migranten“ – ist mittlerweile eine sich ständig verfeinernde Routinepraxis des Sicherheitsstaates.
Die Kultur und Ambition der Geopolitik zeigt sich jedoch im militärischen Milieu, das nach außen geht, am deutlichsten. Hier ist auch neben der Erfassung der Eigentumsverhältnisse das historisch elaborierteste und auch innovativste Feld staatlicher Raumerfassung und -organisation. Militärkarten sind Legion – Opferkarten dagegen eine kaum auffindbare Ausnahme. Das Vokabular ist auf wenige Objekte reduziert: es geht zunächst um Schauplätze militärischer Aktion oder um die Klassifizierung relevanter strategischer Räume und ihre militärisch bedeutsamen Potentiale, also um direkte (z.B. Feuerkraft, Militärbasen) und indirekte (z.B. Wirtschafts- und Produktionskraft) Ressourcen, endlich konkret um die Akteurs– und Feindbestimmung [s. z.B. propagandistisch die Datenbasis zu Al Qaeda], um militärische Lokationen, Bewegungen, Ziele, Treffer, Opfer. Thomas P.M. Barnett`s The Pentagon`s New Map steht paradigmatisch für solche Konstruktionen. Das Weblog des einflußreichen Barnett detailliert seit 4 Jahren sein Konzept einer „nicht-integrierten“ „Lücke“ in der Weltgeographie, die es militärisch zu beseitigen gelte, um das Revier der USA vollends planetar zu machen. Ein neues Genre ist hier in den letzten Jahren entstanden: die Terrorkarten und die Karten der sog. failed states, endlich die nicht empfehlenswerten Risikoländer, von denen der militärisch unerfahrene Mensch nach Anraten des Staates fernhalten solle. Mittlerweile ist in der neuen Zeit des Terrors derlei visueller Orientierungsservice unentbehrlicher Standart medialer Konkurrenz geworden. Wenige Minuten nach den ersten Meldungen über die Verhinderung eines vielfachen Flugzeuganschlages aus England offerierte beispielsweise Spiegel-Online am 10.8.2006 eine interaktive flash-Karte „Die schlimmsten Anschläge seit 9/11 – al-Qaidas Blutspur“. Minutiös werden in dieser Welt der Gewaltkartographie die Makro- und Mikrowelten der landscapes of fear entfaltet. Sie zeigen, wie überwacht, kontrolliert, vernutzt, zerstört und getötet werden kann – und wird. Eher zurückhaltend wird dabei die „eigene Seite“ heroisiert, doch dies reflektiert sich zuweilen auch in eher grotesken Bildern -ein etwas angestrengtes Beispiel für das mapping der Heimatorte von 2800 gefallenen amerikanischen Helden des Irak-Krieges gab etwa die Palm Beach Post.