Einige Sätze aus Zbigniew Brzeziński’s Buch „Die einzige Weltmacht: Amerikas Strategie der Vorherrschaft“ (1997; Dt. Ausgabe 1999 mit einem Vorort von Hans-Dietrich Genscher) werden gegenwärtig allerorten zitiert:
Die Ukraine, ein neuer und wichtiger Raum auf dem eurasischen Schachbrett, ist ein geopolitischer Dreh- und Angelpunkt, weil ihre bloße Existenz als unabhängiger Staat zur Umwandlung Rußlands beiträgt. Ohne die Ukraine ist Russland kein eurasisches Reich mehr. Es kann trotzdem nach einem imperialen Status streben, würde aber dann ein vorwiegend asiatisches Reich werden, das aller Wahrscheinlichkeit nach in lähmende Konflikte mit aufbegehrenden Zentralasiaten hineingezogen würde, die den Verlust ihrer erst kürzlich erlangten Eigenstaatlichkeit nicht hinnehmen und von den anderen islamischen Staaten im Süden Unterstützung erhalten würden. Auch China würde sich angesichts seines zunehmenden Interesses an den dortigen neuerdings unabhängigen Staaten voraussichtlich jeder Neuauflage einer russischen Vorherrschaft über Zentralasien widersetzen. Wenn Moskau allerdings die Herrschaft über die Ukraine mit ihren 52 Millionen Menschen, bedeutenden Bodenschätzen und dem Zugang zum Schwarzen Meer wiedergewinnen sollte, erlangte Russland automatisch die Mittel, ein mächtiges Europa und Asien umspannendes Reich zu werden. Verlöre die Ukraine ihre Unabhängigkeit, so hätte das unmittelbare Folgen für Mitteleuropa und würde Polen zu einem geopolitischen Angelpunkt an der Ostgrenze eines vereinten Europas werden lassen. {74/75} (…)
Am wichtigsten allerdings ist die Ukraine. Da die EU und die NATO sich nach Osten ausdehnen, wird die Ukraine schließlich vor der Wahl stehen, ob sie Teil einer dieser Organisationen werden möchte. Es ist davon auszugehen, daß sie, um ihre Eigenständigkeit zu stärken, beiden beitreten möchte, wenn deren Einzugsbereich einmal an ihr Territorium einzige Weltmacht grenzt und sie die für eine Mitgliedschaft notwendigen inneren Reformen durchgeführt hat. Obwohl dies Zeit brauchen wird, kann der Westen — während er seine Sicherheits- und Wirtschaftskontakte mit Kiew weiter ausbaut —‚ schon jetzt das Jahrzehnt zwischen 2005 und 2015 als Zeitrahmen für eine sukzessive Eingliederung der Ukraine ins Auge fassen. Dadurch vermindert er das Risiko, daß die Ukrainer befürchten könnten, Europas Erweiterung werde an der polnischukrainischen Grenze haltmachen. Trotz seiner Proteste wird sich Rußland wahrscheinlich damit abfinden, daß die NATO-Erweiterung im Jahre 1999 mehrere mitteleuropäische Länder einschließt, zumal sich die kulturelle und soziale Kluft zwischen Rußland und Mitteleuropa seit dem Zusammenbruch des Kommunismus beträchtlich vertieft hat. Im Gegensatz dazu wird es Rußland unvergleichlich schwerer fallen, sich mit einem NATO-Beitritt der Ukraine abzufinden, denn damit würde Moskau eingestehen, daß das Schicksal der Ukraine nicht mehr organisch mit dem Rußlands verbunden ist. Doch wenn die Ukraine als unabhängiger Staat überleben soll, wird sie eher mit Mitteleuropa als mit Eurasien zusammengehen müssen. Soll sie zu Mitteleuropa gehören, wird sie an den Bindungen Mitteleuropas zur NATO und der Europäischen Union voll teilhaben müssen. Akzeptiert Rußland diese Bindungen, dann legt es sich damit in seiner Entscheidung fest, selbst Teil von Europa zu werden. Rußlands Weigerung wäre gleichbedeutend mit dem Eingeständnis, daß es Europa zugunsten einer eurasischen Identität und Existenz den Rücken kehrt. Der springende Punkt ist, und das darf man nicht vergessen: Ohne die Ukraine kann Rußland nicht zu Europa gehören, wohingegen die Ukraine ohne Rußland durchaus Teil von Europa sein kann. Sollte Rußland beschließen, sich mit Europa zusammenzutun, liegt es letztendlich in seinem ureigenen Interesse, daß die Ukraine in ein größer werdendes europäisches Haus aufgenommen wird. Tatsächlich könnte die Beziehung der Ukraine zu Europa der Wendepunkt für Rußland selbst sein. Das heißt aber, daß der Zeitpunkt, an dem Rußland über sein Verhältnis zu Europa entscheidet, noch nicht in Sicht ist — entscheidet in dem Sinne, daß die Wahl der Ukraine zugunsten Europas auch Rußland zu einer Entscheidung drängt, wie es mit ihm weitergehen soll: ob es ein Teil von Europa oder ein eurasischer Außenseiter werden will, der im Grunde weder zu Europa noch zu Asien gehört und aus seinen Konflikten mit dem nahen Ausland nicht mehr herausfindet. Es ist zu hoffen, daß ein kooperatives Verhältnis zwischen einem wachsenden Europa und Rußland nicht bei offiziellen bilateralen Kontakten stehenbleibt, sondern sich zu organischeren und verbindlicheren Formen wirtschaftlicher und politischer Zusammenarbeit und einer echten Sicherheitspartnerschaft entwickelt. Auf diese Weise könnte Rußland im Lauf der ersten beiden Jahrzehnte des kommenden Jahrhunderts zunehmend integraler Bestandteil eines Europa werden, das nicht nur die Ukraine umfaßt, sondern bis zum Ural und noch darüber hinausreicht. Eine Anbindung oder gar irgendeine Form von Mitgliedschaft für Rußland in den europäischen und transatlantischen Strukturen würde hinwiederum drei kaukasischen Ländern — Georgien, Armenien und Aserbaidschan —‚ die eine Bindung an Europa verzweifelt herbeiwünschen, die Türen zu einem Beitritt öffnen. Wie schnell dieser Prozeß vonstatten gehen wird, läßt sich nicht voraussagen, aber eines ist sicher: Er wird sich beschleunigen, wenn ein geopolitischer Kontext geschaffen ist, der Rußland in diese Richtung treibt und zugleich andere Versuchungen ausschließt. Je rascher sich Rußland auf Europa zubewegt, desto schneller wird sich das Schwarze Loch im Herzen Eurasiens mit einer Gesellschaft füllen, die immer modernere und demokratischere Züge annimmt. Tatsächlich besteht das Dilemma für Rußland nicht mehr darin, eine geopolitische Wahl zu treffen, denn im Grunde geht es ums Überleben. {178f.}
Mehr als ein Jahrzehnt später konstatiert B. in seinem letzten Buch „Strategic Vision, America and the Crisis of Global Power“ (2012) eine Krise der globalen Macht USA. Die Dauer ihrer Vorherrschaft datiert er auf noch zwei Jahrzehnte. Von der EU ist er enttäuscht. Die alte Idee der Weltherrschaft eines starken Nationalstaates durch die Beherrschung Eurasiens gibt er auf. Notwendig sei, Rußland und die Türkei so zu verändern, dass sie in das transatlantische Bündnis EU-US eingebaut werden könnten und ein „expanded west“ (132) entstünde – als aktuelle Avantgarde beim Einbau der Ukraine in einen solchen erweiterten Westen sieht er wieder die EU unter Führung Deutschlands, dann auch Frankreichs und Polens an. Der „erweiterte Westen“ ist das Ziel der US-Strategie seit dem Ende des Staatssozialismus – ob es um Ukraine, TTIP oder Drohnenmärkte geht. B.`Äußerungen zur Ukraine sind in diesem Kontext zu sehen:
A systematically nurtured closer relationship between Russia and the Atlantic West (economically with the EU, and in security matters with NATO and with the United States more generally) could be hastened by gradual Russian acceptance of a truly independent Ukraine, which desires more urgently than Russia to be close to Europe and eventually to be a member of the European Union. Hence the EU was wise in November 2010 to grant Ukraine access to its programs, pointing toward a formal association agreement in 2011. A Ukraine not hostile to Russia but somewhat ahead of it in its access to the West actually helps to encourage Russia’s movement Westward toward a potentially rewarding European future. On the other hand, a Ukraine isolated from the West and increasingly politically subordinated to Russia would encourage Russia’s unwise choice in favor of its imperial past. (S.150)
Zur Einschätzung von Brzezinski nützlich ist der von Charles Gati herausgegebene und mit einem Vorwort von Jimmy Carter versehene Band „ZBIG: the strategy and statecraft of Zbigniew Brzezinski„. John Hopkins University Press: Baltimore 2013 u.a. mit Beiträgen von Rothkopf oder Fukuyama. Gati hat dazu ein lesenswertes Interview gegeben: The World According to Zbig.