Empörung

die einrichtungMein Kollege Andrej H. wurde vor wenigen Tagen in Berlin verhaftet. Aus gemeinsamer Arbeit in einem Informationsnetz zur Politik der Privatisierung, entsprechenden Webprojekten und internationalen Forschungsprojekten kenne ich ihn. In einem Seminar, das ich organisiere und das nächste Woche stattfinden wird, war er gleich mehrfach als Referent zu stadtsoziologischen und raumtheoretischen Fragen vorgesehen. Nachdem er zunächst mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe transportiert wurde, sitzt er mittlerweile in Berlin – Moabit in Untersuchungshaft. Das kann ein halbes Jahr dauern. Details stehen hier. Zweifellos: Menschen führen fast immer ein zweites oder drittes heimliches Leben: aus Neugier, Lust, Zwang, Verzweiflung oder Empörung. In solchen Fällen beutet der Staat die Fähigkeit zum Rollenwechsel aus. Aus einem Treffen wird eine Konspiration, der Besuch einer Bibliothek oder die Verwendung eines Fachbegriffs – in diesem Fall: „Gentrifizierung“ – wird zu einem Indiz für ein heimliches Leben. In diesem Fall: für die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung. Seit wenigen Tagen gehe ich definitiv davon aus, dass ich aufgrund dieser lockeren wissenschaftlich-politischen Zusammenarbeit ebenfalls auf meine Gespräche und Gesprächspartner achten muss, meinem Handy noch weniger trauen sollte als bisher und ansonsten eigentlich gehalten wäre, Literaturlisten, E-Mail-Verzeichnisse, Festplatten, Bücherschränke und Book(!) marks nach ihrem terroristischen Potential durchzuforsten. Eine Selbstreinigung meines Sprechverhaltens wäre angesagt nach Maßgabe seiner Nutzbarkeit durch Brandstifter aller Art. Nun – ich werde das vorläufig zurückstellen müssen und statt dessen helfen, der zuständigen Einrichtung eins aufs Dach zu geben, Andrej zu scheiben, Geld zu horten für die Abwehr der vermutlich noch zu „spezifizierenden“ Zugehörigkeitsbehauptungen. Das Ganze ist grotesk, was – entgegen meiner Vermutung an anderem Ort – mit einigem Verzug auch die Tante ZEIT bemerkt hat.

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