Studentische Massenpöbeleien

nennt Gerd Roellecke, emeritiert, in der FAZ v. 14.2.08, was nach seiner Meinung dummerweise „1968“ genannt wurde. Das waren „Keime jener Rohheit“, die sich auch in „den wüsten Beschimpfungen jüdischer Professoren in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts“ zeigte. R. bedauert, dass man den in roh-antisemistischer Kontinuität stehenden 68ern nicht „den Stempel der Gewalttätigkeit aufzudrücken“ vermochte, bringt aber doch erleichtert dann Habermas‘ „linken Faschismus“ in Anschlag, der allerdings, wie schlapp, am Ende bloß eine Menge von „zwielichtigen Gestalten“ in das hochschulpolitische Establishment geschwemmt habe. Also nein, mein Leib- und Magenblatt – solche Exzesse erinnern mich immer wieder daran: die FAZ selbst ist der Exzess.

Es gab viele 68… [III]

Artefakte

Die Leistung der linken 68er war, ihre Erfahrungen der ersten großen politischen Krisenmomente (1964-1968/9) des goldenen Fordismus als Bruch und radikalalternativen Entwurf zu fassen. Ihre unmittelbare politische Aktion gelangte bis zur sozialen, kulturellen, theoretischen und auch politischen Revolte (ein Begriff, der sich der ewigen Dialektik von „Reform & Revolution“ nicht fügen will). Dieser erstaunliche Bruch provozierte deutlich Reaktionen. Die offensiven und strategischen Antworten der ruling classes freilich – ihre Politik der Modernisierung des Kapitalismus schon zeitgleich seit Mitte der 60er Jahre, ihre Aufkündigung des alten sozial-liberalen Klassenkompromisses und ihren Wechsel zum Neoliberalismus, ihr neuer Erfindungsreichtum in Sachen Zwang und Gewalt, ihre Klugheit bei der Schaffung neuer Produktivkräfte und damit ungesehener Akkumulationsräume und -praxen – dies alles nahmen die linken 68er bestenfalls beiläufig zur Kenntnis, sie waren kein wirklich bewegendes Motiv. Vor allem die unspannende Eigentumsfrage hat sie kaum interessiert. Aber manchmal verwirklichte sie die einfachen Sachen (in) dieser Zeit: Kooperation, Radikalität, Öffentlichkeit, Solidarität, Communalität etwa, die sich größere Menschenmengen überwiegend aus der großen bürgerlichen Mittelklassenkultur eher selten zu Eigen machen.

Der politischen Linken hinterließ sie ein frisch aktualisiertes, säkularisiertes, oft entmystifiziertes und ziemlich komplettes historisches Register linken Denkens und eine Menge kultureller, theoretischer und politischer (nicht aber sozialer und schon gar nicht ökonomischer) Artefakte, welche nach 1989 halfen die völlige politische Auflösung der Linken in Europa zu verhindern, so dass es oft bei Dezimierung durch Demütigung, Geringschätzung und beiläufige Entmachtung blieb, also der Raum und die Chance zur Rifundazione offen gehalten wurden. Und es bleibt der Ratschlag, dass es sich lohnt, Probleme – Themen – auf ihr politisches Überraschungspotential hin zu untersuchen und dieses cool, clever und mit einer radikalen Freude an Regelverletzung auszuprobieren.

68 war eine rasende Zeit. Verhältnisse lassen sich immer neu zum Tanzen bringen. Und: alles, was geschehen ist, kann wiederkommen. Alles.

.P.S. -> Mittlerweile erschienen in RosaLux 1/2008 

Es gab viele 68…[II]

Kultur und Kampf

Sich zudem kulturelle Absetzungsvorteile zu verschaffen machte Spaß, war einfach, zwingend und bestimmt keine Kulturrevolution. Sie sichern praktischerweise bis heute das klammheimliche Erkennen und manche Loyalitäten, ohne die keine Seilschaft und keine politische Generation funktionieren. Die 68er Politik der Beziehungen (die schon früh nachhaltig bis heute wirkend im SDS praktiziert wurde) war deshalb so erfolgreich, weil sie die Linien zwischen Privatem und Öffentlichen neu zog, das Private als politische Ressource entdeckte und es nutzte, ohne dass die handwerklichen Fluchten ihrer kleinbürgerlichen Kerngruppen in die Sümpfe des Exhibitionismus und Eskapismus (bis hin zu den prärechten maoistischen Kurzzeitumtrieben) allzu überhand nahmen. Das geschah erst mit der Explosion der unterhaltsamen Beziehungsindustrie in den 70ern, ohne deren politische Psychologie es im Übrigen die Stärke und Dauerhaftigkeit des Feminismus und der Friedensbewegung der 80er Jahre ff. nie gegeben hätte. Damit erschloss sie sich einen riesigen Themenraum, dessen erfolgreiche Okkupation sie übrigens auch selbst durchaus als befreienden Tabubruch empfand und dann natürlich auch als progressive Regelverletzung inszenierte.

Das Contra war dabei das prekäre Band der bunten Bewegungen, die eine Weile lang mindestens gleich das System, seine Institutionen und den ganzen Rest los werden wollten, echt kleinbürgerlicher Radikalismus halt, wie die fast ausgestorbenen kommunistischen Fossile zielgruppensicher einschätzten, deren Antifaschismus wenigstens immer respektiert wurde. Autoritarismus und Notstand der Demokratie und der lähmend-zukunftslose, scheinbar ewige Immobilismus des großen fordistischen Nachkriegsklassenkompromisses zwischen Liberalismus und Sozialismus mitsamt seinem Regime der Arbeit wurden plötzlich unerträglich. Sozialproteste kulminierten 68/9 in Italien, auch in Frankreich in isolierte Fabrikregierungen, die ersten seit 1945/47! Die Architektur des Kapitalismus wurde radikal dekonstruiert, auseinander genommen – an einigen wirklichen Orten und in vielen Köpfen. Die Bourgeoisie erschrak auch zum ersten Mal wieder und probierte seit 1973/4 gegen solche Insubordination jene neue Disziplinierung aus, die dann Neoliberalismus genannt wurde und alte wie neue Linke in einem kurzen Jahrzehnt ziemlich erledigte. Doch zuvor, 1967/8 noch, begleiteten Sozial- und Kulturprotest den Ausbruch in den Internationalismus und in das gerade Gegenteil des seit damals behaupteten Anti-Amerikanismus: die linken 68er waren vielmehr just eine distinkte bundesdeutsche Amerikanisierungsavantgarde, ein Fall von nachholend libertärer Amerikanisierung der Linken oder linkem Amerikanismus – eine neue Selbstausstattung mit Modernität, die eine deutliche Differenz gegenüber vorherigen Generationen (nicht nur der „Väter“) und dem damals herrschenden wie konkurrierenden politischen Milieu setzte. Diese Variation der „Internationalität“ wird oft ignoriert, wenn zu Recht an den „Internationalismus“ der linken 68er mit Algerien, Vietnam oder Kuba erinnert wird.

Erst mit der Themen- und Verfahrenspolitik der postmodernen Eingemeindungsstrategie in den späten 70er und 80er Jahren und ihrer ambivalenten Pflege der Diversity konnten diese linken Vorstöße ins Private und neue Öffentliche konterkariert werden. Der linke Avantgardismus wurde als ein altertümlich-überholter Irrtum irregeleiteter überbaubewegter Jugendlicher oder als kommod händelbare Modernisierungsvolte reinterpretiert. Das war übrigens keine Sache einer neuen politischen Generation, sondern Resultat einer erfolgreichen Politik korrumpierender Renormalisierung, deren Erfindung und Durchsetzung über ein Jahrzehnt lang als die gleichsam ständige Aufnahmeprüfung der neuen, bereits uneinholbar zeitgewandten post-68er Kohorten in die Belohnungskultur einer bundesdeutschen herrschenden Klasse verstanden werden kann, die sich in der Brandt/Schmidt-Zeit der servil-autoritären Traditionsbestände des konservativ-liberalen CDU-Staates entledigt hatte.

Markt statt Politik

Und dann verlief sich die bleierne Zeit des terroristischen RAF-Manövers – für das sich die weit überwiegende Mehrheit der schon ermatteten linken 68er nicht interessierte – und eine letzte große politischen Innovation geschah: die massive Besetzung des Themas Ökologie und die bestandsfähige, produktive Abarbeitung an ihrer parteiförmigen Reproduktion, und das hieß auch: Aufgabe des Grundmisstrauens gegenüber dem Staatsapparat Partei. „Der“ bürgerliche und kapitalistische Kernstaat wurde erst noch viel später als Kampffeld und damit als Raum gesehen, der auch für eine Steigerung politischer Möglichkeiten gut sein könnte bei der Konstruktion der Emanzipation. Parallel zu dieser Annäherung an die alten Politikformen des liberalen Kapitalismus diffundierten die substantiellen politischen Trennschärfen und utopischen Potentiale des „Projekts 68“ ungesehen und bestürzend leise (wenn auch nicht durchgängig, immerhin) in die neuen kapitalismusfähigeren Versprechungen eines ganz anderen, ebenso aktivistischen und transformatorischen Entwurfs, der freilich nicht zuerst mit Mehrheit, Macht oder Moral operierte, sondern der seine politische Kraft aus seiner radikalen Option für das Nichtpolitische – den Markt – zog. Mit einer solchen ausschließlich marktbürgerlichen Rekonstruktion des Sozialen manövrierte der Neoliberalismus die konkurrierenden politischen (Sozialismus / Sozialstaat) und zivilgesellschaftlichen (Bürgergesellschaft / Feminismus) Projekte der 68er unmerklich, schnell und effizient aus, zumal deren dünn gewordene Identität nach 89 fast ein Jahrzehnt lang keine Kraft mehr für eine Verbindung dieser Projekte mobilisieren konnte.

68 hat ihnen Raum geschaffen, alte linke Traditionsbestände wiederentdeckt, modernisiert und oft radikalisiert oder sie hat diese Projekte sogar (neu) hervorgebracht – mehr nicht. (Sie produktiv zeitgerecht zusammen zu bringen und zu halten, bleibt die Chance jener anderen jetzigen Linken, die in der Zeit des Neoliberalismus entsteht – deren Sprung zur Bundestagsmacht freilich so unerwartet hoch und also regelmäßig derart pittoresk war und ist, dass der historische Abstand zwischen dieser neuen kleinen Macht und der jahrzehntelangen alten Ohnmacht riesig ist. Diese prekäre Spanne mitsamt ihren Widersprüchen wie vor allem Ungleichzeitigkeiten ist mittlerweile völlig aus dem Blickfeld der naturgemäß sehr geschäftigen Politik der Linken. geraten.) Weder ideen- noch machtpolitisch hatte das damals dann noch übrig gebliebene linke 68 der neuen neoliberalen Praxis etwas entgegenzusetzen. Diese ging auf eine warenweltlich vermittelte Politisierung des Alltags und des Privaten aus, in deren Zentrum die zynisch-zähe Verfolgung und Ermordung jeglicher Idee, Kultur und Praxis der Gleichheit (und des nicht marktvermittelten Libertären) stand und steht. Eine nichtpolitische Kritik des Marktradikalismus kam dagegen nicht an und die Vorräte für eine politische Kritik des neuradikalen, militärischen, imperialen, triumphierenden Kapitalismus aus dem Bestand der Linken schienen seit den 80ern und erst recht danach verbraucht, wie die dezimierte 68er Linke selbst, die wie andere politische Generationen vor ihr am Ende so viele müde und ausgebrannte Biografien aufweist. Oft genug las und liest sie die Gegenwart nur noch mit den Augen der Vergangenheit. (I) -> (III)

Es gab viele 68… [I]

und welches gerade Mal das Sagen – also die Hegemonie – hatte, änderte sich wahrlich oft. Seitdem haben unendlich viele Zeitinterpretatoren im Steinbruch „68“ gewütet, Belege für ihre ganz eigene Biografie mitsamt Geschichtssicht gesammelt und (sich) entsprechend positioniert. Nicht die Zukunft der Geschichte, sondern deren Gegenwart oder Vergangenheit hat sie interessiert. Doch 68 ist eine fröhliche Zäsur, die vergangen ist und ohne Zukunft, auch wenn die unsäglich redseligen Protagonisten dieser politischen Generation noch zwanzig oder dreißig Jahre weiter reden werden. Von links und rechts, unten und vor allem von oben. Furchtbar.

Schweigen und Reden

Damals ging es um die Zukunft einer Vergangenheit, deren massive Präsenz plötzlich sichtbar wurde. Sie war kaum zu ertragen. Daher gab es wenige Kompromisse mit der Wahrheit, also auch viel Schärfe, die lange blieb, oft als zuweilen auch stilsichere Sektiererei. In der Frage des Faschismus kam sehr wenig Spielerisches und nichts „Jugendbewegtes“ vor. Radikalität paarte sich angesichts der Staubwolken der paar zusammenfallenden Fassaden der Macht rasch mit grandiosem Illusionismus und lauter, ernster Großrhetorik – auch das gehörte zu den roaring sixties. Das alles aber waren keine schlechten Methoden politischer Selbstbefeuerung und –ermächtigung. Ein paar erste Risse konnten so in das sehr normale, ganz gründliche und überhaupt nicht dröhnende Schweigen der millionenfachen Melange aus mitlaufenden und regierenden Nichtfaschisten und selbstsicher herrschenden Profaschisten und Faschisten hineingebracht werden – und plötzlich dämmerte dahinter die Tatgemeinschaft der Abs und Adenauer, Quandt und von Braun, von Kapital und Katholizismus auf. Dies, die Frontstellung gegen den Faschismus, der nostalgisch als NPD neu in Land- und Kommunaltage einbrach, gegen seine Unterstützer, Profiteure, gegen die anderthalb Jahrzehnte in Familien, Schulen und Medien herrschende Zeit und Politik des machtgeordneten, verzweifelten oder anpasserischen, auf alle Fälle aber lähmenden Beschweigens, der Verdrängung und der Rechtfertigung, gegen seine liberal-totalitäre Modernisierung (dieses Lied sang Herbert Marcuse in der linksbürgerlichen edition suhrkamp vor) – sie war seit 1964/5 ein Schlüsselmotiv, das viele 68er (keineswegs bloß Studierende) in Bewegung setzte. Sie war nicht erst seit 1965/6, sondern schon Ende der 50er Jahre für den SDS, „konkret“ oder linksliberale Verbände wie die Humanistische Studentenunion ein zentrales Motiv, das in den vielen 68er-Nutznießungen dieser Tage fast immer unterschlagen wird. Ein Schweigen, das nicht verwundert, wem nützt das schon im Biografiebusiness. Niemand auch kam damals auf die Idee, vom „Postfaschismus“ zu reden, solche Entsorgungen der Geschichte und ihrer Theoretisierung folgten erst Jahrzehnte später. Aber verziehen hat man der aus 68 kommenden Linken diese rabiate Zerstörung des Schweigens zur Sache Faschismus nie – bis zum Jahreswechsel 2007/08, als die FAS als „Hauptneurose der Achtundsechziger“ ihre „distanzlose Identifizierung mit den Opfern des deutschen Vernichtungswahns“ und zugleich „heimliche Kontinuitäten zwischen NS-Zeit“ und 68 diagnostizierte. Tatsächlich waren damals „Demokratie“ und „Faschismus“ die entschieden distanzlosen Schlüsselkriterien für die Beurteilung der alten und neuen Welt und ihrer Eingeborenen geworden und sie blieben bis heute, meist ohne Naivität und Heuchlerei. Freilich versperrten sie auch oft das Begreifen, dass die Bourgeoisie nicht nur eine Welt des Faschismus und der Ausbeutung, sondern etwa auch das Institut des Rechtsstaats und eine Kultur des Öffentlichen oder der Moderne zu schaffen vermochte – und dass es diese Bourgeosie überhaupt gab, ob liberal oder radikal; und schließlich noch die schwerwiegendste Blindstelle: bestenfalls naive Demokratieideen lagen den Selbstorganisationen und Ordnungen zugrunde, die sich die 68er schufen.
Dass nun Diskurspolitik, zumal mit eigenem (linkem) Vokabular, als schlaues Medium der Sozialkarriere und des Machterwerbs zeitweise ganz beträchtliche Terraingewinne verschaffen kann, war den 68er Männern damals kaum bewusst. Sie wurde von ihnen einfach so gemacht. Und auch eine neue Welt der Texte meldete sich im rissig gewordenen Kalten Krieg, an den zu glauben seit 1964/5 immer schwerer fiel. Diese Texte standen hinter den Diskursen, sandten Botschaften aus, veränderten sich und verschwanden. Die ersten linken Verständigungsbücher („CDU-Staat“, „Politik des Kapitals“, „Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik“, „Formen bürgerlicher Herrschaft“) hatten fünfzig- oder sechzigtausend Auflage. Wichtiger noch als die Texte aber war die leidenschaftliche Wiedereinsetzung des ja keineswegs privatisierten, sondern seines demokratischen Sinns entleerten und abgestorbenen Öffentlichen der Straßen, Fabriken, Hochschulen und kargen Drähte des Internationalismus: das war neben der fantastischen Lockung der Utopie die einzige, frühe Versuchung der Macht – es war das Erstaunen über die Gemeinschaftlichkeit, die Attraktion der Communalität. Die Art des Lebens änderte sich und Marx war kein Gespenst mehr. (more)