Es gab viele 68…[II]

Kultur und Kampf

Sich zudem kulturelle Absetzungsvorteile zu verschaffen machte Spaß, war einfach, zwingend und bestimmt keine Kulturrevolution. Sie sichern praktischerweise bis heute das klammheimliche Erkennen und manche Loyalitäten, ohne die keine Seilschaft und keine politische Generation funktionieren. Die 68er Politik der Beziehungen (die schon früh nachhaltig bis heute wirkend im SDS praktiziert wurde) war deshalb so erfolgreich, weil sie die Linien zwischen Privatem und Öffentlichen neu zog, das Private als politische Ressource entdeckte und es nutzte, ohne dass die handwerklichen Fluchten ihrer kleinbürgerlichen Kerngruppen in die Sümpfe des Exhibitionismus und Eskapismus (bis hin zu den prärechten maoistischen Kurzzeitumtrieben) allzu überhand nahmen. Das geschah erst mit der Explosion der unterhaltsamen Beziehungsindustrie in den 70ern, ohne deren politische Psychologie es im Übrigen die Stärke und Dauerhaftigkeit des Feminismus und der Friedensbewegung der 80er Jahre ff. nie gegeben hätte. Damit erschloss sie sich einen riesigen Themenraum, dessen erfolgreiche Okkupation sie übrigens auch selbst durchaus als befreienden Tabubruch empfand und dann natürlich auch als progressive Regelverletzung inszenierte.

Das Contra war dabei das prekäre Band der bunten Bewegungen, die eine Weile lang mindestens gleich das System, seine Institutionen und den ganzen Rest los werden wollten, echt kleinbürgerlicher Radikalismus halt, wie die fast ausgestorbenen kommunistischen Fossile zielgruppensicher einschätzten, deren Antifaschismus wenigstens immer respektiert wurde. Autoritarismus und Notstand der Demokratie und der lähmend-zukunftslose, scheinbar ewige Immobilismus des großen fordistischen Nachkriegsklassenkompromisses zwischen Liberalismus und Sozialismus mitsamt seinem Regime der Arbeit wurden plötzlich unerträglich. Sozialproteste kulminierten 68/9 in Italien, auch in Frankreich in isolierte Fabrikregierungen, die ersten seit 1945/47! Die Architektur des Kapitalismus wurde radikal dekonstruiert, auseinander genommen – an einigen wirklichen Orten und in vielen Köpfen. Die Bourgeoisie erschrak auch zum ersten Mal wieder und probierte seit 1973/4 gegen solche Insubordination jene neue Disziplinierung aus, die dann Neoliberalismus genannt wurde und alte wie neue Linke in einem kurzen Jahrzehnt ziemlich erledigte. Doch zuvor, 1967/8 noch, begleiteten Sozial- und Kulturprotest den Ausbruch in den Internationalismus und in das gerade Gegenteil des seit damals behaupteten Anti-Amerikanismus: die linken 68er waren vielmehr just eine distinkte bundesdeutsche Amerikanisierungsavantgarde, ein Fall von nachholend libertärer Amerikanisierung der Linken oder linkem Amerikanismus – eine neue Selbstausstattung mit Modernität, die eine deutliche Differenz gegenüber vorherigen Generationen (nicht nur der „Väter“) und dem damals herrschenden wie konkurrierenden politischen Milieu setzte. Diese Variation der „Internationalität“ wird oft ignoriert, wenn zu Recht an den „Internationalismus“ der linken 68er mit Algerien, Vietnam oder Kuba erinnert wird.

Erst mit der Themen- und Verfahrenspolitik der postmodernen Eingemeindungsstrategie in den späten 70er und 80er Jahren und ihrer ambivalenten Pflege der Diversity konnten diese linken Vorstöße ins Private und neue Öffentliche konterkariert werden. Der linke Avantgardismus wurde als ein altertümlich-überholter Irrtum irregeleiteter überbaubewegter Jugendlicher oder als kommod händelbare Modernisierungsvolte reinterpretiert. Das war übrigens keine Sache einer neuen politischen Generation, sondern Resultat einer erfolgreichen Politik korrumpierender Renormalisierung, deren Erfindung und Durchsetzung über ein Jahrzehnt lang als die gleichsam ständige Aufnahmeprüfung der neuen, bereits uneinholbar zeitgewandten post-68er Kohorten in die Belohnungskultur einer bundesdeutschen herrschenden Klasse verstanden werden kann, die sich in der Brandt/Schmidt-Zeit der servil-autoritären Traditionsbestände des konservativ-liberalen CDU-Staates entledigt hatte.

Markt statt Politik

Und dann verlief sich die bleierne Zeit des terroristischen RAF-Manövers – für das sich die weit überwiegende Mehrheit der schon ermatteten linken 68er nicht interessierte – und eine letzte große politischen Innovation geschah: die massive Besetzung des Themas Ökologie und die bestandsfähige, produktive Abarbeitung an ihrer parteiförmigen Reproduktion, und das hieß auch: Aufgabe des Grundmisstrauens gegenüber dem Staatsapparat Partei. „Der“ bürgerliche und kapitalistische Kernstaat wurde erst noch viel später als Kampffeld und damit als Raum gesehen, der auch für eine Steigerung politischer Möglichkeiten gut sein könnte bei der Konstruktion der Emanzipation. Parallel zu dieser Annäherung an die alten Politikformen des liberalen Kapitalismus diffundierten die substantiellen politischen Trennschärfen und utopischen Potentiale des „Projekts 68“ ungesehen und bestürzend leise (wenn auch nicht durchgängig, immerhin) in die neuen kapitalismusfähigeren Versprechungen eines ganz anderen, ebenso aktivistischen und transformatorischen Entwurfs, der freilich nicht zuerst mit Mehrheit, Macht oder Moral operierte, sondern der seine politische Kraft aus seiner radikalen Option für das Nichtpolitische – den Markt – zog. Mit einer solchen ausschließlich marktbürgerlichen Rekonstruktion des Sozialen manövrierte der Neoliberalismus die konkurrierenden politischen (Sozialismus / Sozialstaat) und zivilgesellschaftlichen (Bürgergesellschaft / Feminismus) Projekte der 68er unmerklich, schnell und effizient aus, zumal deren dünn gewordene Identität nach 89 fast ein Jahrzehnt lang keine Kraft mehr für eine Verbindung dieser Projekte mobilisieren konnte.

68 hat ihnen Raum geschaffen, alte linke Traditionsbestände wiederentdeckt, modernisiert und oft radikalisiert oder sie hat diese Projekte sogar (neu) hervorgebracht – mehr nicht. (Sie produktiv zeitgerecht zusammen zu bringen und zu halten, bleibt die Chance jener anderen jetzigen Linken, die in der Zeit des Neoliberalismus entsteht – deren Sprung zur Bundestagsmacht freilich so unerwartet hoch und also regelmäßig derart pittoresk war und ist, dass der historische Abstand zwischen dieser neuen kleinen Macht und der jahrzehntelangen alten Ohnmacht riesig ist. Diese prekäre Spanne mitsamt ihren Widersprüchen wie vor allem Ungleichzeitigkeiten ist mittlerweile völlig aus dem Blickfeld der naturgemäß sehr geschäftigen Politik der Linken. geraten.) Weder ideen- noch machtpolitisch hatte das damals dann noch übrig gebliebene linke 68 der neuen neoliberalen Praxis etwas entgegenzusetzen. Diese ging auf eine warenweltlich vermittelte Politisierung des Alltags und des Privaten aus, in deren Zentrum die zynisch-zähe Verfolgung und Ermordung jeglicher Idee, Kultur und Praxis der Gleichheit (und des nicht marktvermittelten Libertären) stand und steht. Eine nichtpolitische Kritik des Marktradikalismus kam dagegen nicht an und die Vorräte für eine politische Kritik des neuradikalen, militärischen, imperialen, triumphierenden Kapitalismus aus dem Bestand der Linken schienen seit den 80ern und erst recht danach verbraucht, wie die dezimierte 68er Linke selbst, die wie andere politische Generationen vor ihr am Ende so viele müde und ausgebrannte Biografien aufweist. Oft genug las und liest sie die Gegenwart nur noch mit den Augen der Vergangenheit. (I) -> (III)

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