Es gab viele 68… [I]

und welches gerade Mal das Sagen – also die Hegemonie – hatte, änderte sich wahrlich oft. Seitdem haben unendlich viele Zeitinterpretatoren im Steinbruch „68“ gewütet, Belege für ihre ganz eigene Biografie mitsamt Geschichtssicht gesammelt und (sich) entsprechend positioniert. Nicht die Zukunft der Geschichte, sondern deren Gegenwart oder Vergangenheit hat sie interessiert. Doch 68 ist eine fröhliche Zäsur, die vergangen ist und ohne Zukunft, auch wenn die unsäglich redseligen Protagonisten dieser politischen Generation noch zwanzig oder dreißig Jahre weiter reden werden. Von links und rechts, unten und vor allem von oben. Furchtbar.

Schweigen und Reden

Damals ging es um die Zukunft einer Vergangenheit, deren massive Präsenz plötzlich sichtbar wurde. Sie war kaum zu ertragen. Daher gab es wenige Kompromisse mit der Wahrheit, also auch viel Schärfe, die lange blieb, oft als zuweilen auch stilsichere Sektiererei. In der Frage des Faschismus kam sehr wenig Spielerisches und nichts „Jugendbewegtes“ vor. Radikalität paarte sich angesichts der Staubwolken der paar zusammenfallenden Fassaden der Macht rasch mit grandiosem Illusionismus und lauter, ernster Großrhetorik – auch das gehörte zu den roaring sixties. Das alles aber waren keine schlechten Methoden politischer Selbstbefeuerung und –ermächtigung. Ein paar erste Risse konnten so in das sehr normale, ganz gründliche und überhaupt nicht dröhnende Schweigen der millionenfachen Melange aus mitlaufenden und regierenden Nichtfaschisten und selbstsicher herrschenden Profaschisten und Faschisten hineingebracht werden – und plötzlich dämmerte dahinter die Tatgemeinschaft der Abs und Adenauer, Quandt und von Braun, von Kapital und Katholizismus auf. Dies, die Frontstellung gegen den Faschismus, der nostalgisch als NPD neu in Land- und Kommunaltage einbrach, gegen seine Unterstützer, Profiteure, gegen die anderthalb Jahrzehnte in Familien, Schulen und Medien herrschende Zeit und Politik des machtgeordneten, verzweifelten oder anpasserischen, auf alle Fälle aber lähmenden Beschweigens, der Verdrängung und der Rechtfertigung, gegen seine liberal-totalitäre Modernisierung (dieses Lied sang Herbert Marcuse in der linksbürgerlichen edition suhrkamp vor) – sie war seit 1964/5 ein Schlüsselmotiv, das viele 68er (keineswegs bloß Studierende) in Bewegung setzte. Sie war nicht erst seit 1965/6, sondern schon Ende der 50er Jahre für den SDS, „konkret“ oder linksliberale Verbände wie die Humanistische Studentenunion ein zentrales Motiv, das in den vielen 68er-Nutznießungen dieser Tage fast immer unterschlagen wird. Ein Schweigen, das nicht verwundert, wem nützt das schon im Biografiebusiness. Niemand auch kam damals auf die Idee, vom „Postfaschismus“ zu reden, solche Entsorgungen der Geschichte und ihrer Theoretisierung folgten erst Jahrzehnte später. Aber verziehen hat man der aus 68 kommenden Linken diese rabiate Zerstörung des Schweigens zur Sache Faschismus nie – bis zum Jahreswechsel 2007/08, als die FAS als „Hauptneurose der Achtundsechziger“ ihre „distanzlose Identifizierung mit den Opfern des deutschen Vernichtungswahns“ und zugleich „heimliche Kontinuitäten zwischen NS-Zeit“ und 68 diagnostizierte. Tatsächlich waren damals „Demokratie“ und „Faschismus“ die entschieden distanzlosen Schlüsselkriterien für die Beurteilung der alten und neuen Welt und ihrer Eingeborenen geworden und sie blieben bis heute, meist ohne Naivität und Heuchlerei. Freilich versperrten sie auch oft das Begreifen, dass die Bourgeoisie nicht nur eine Welt des Faschismus und der Ausbeutung, sondern etwa auch das Institut des Rechtsstaats und eine Kultur des Öffentlichen oder der Moderne zu schaffen vermochte – und dass es diese Bourgeosie überhaupt gab, ob liberal oder radikal; und schließlich noch die schwerwiegendste Blindstelle: bestenfalls naive Demokratieideen lagen den Selbstorganisationen und Ordnungen zugrunde, die sich die 68er schufen.
Dass nun Diskurspolitik, zumal mit eigenem (linkem) Vokabular, als schlaues Medium der Sozialkarriere und des Machterwerbs zeitweise ganz beträchtliche Terraingewinne verschaffen kann, war den 68er Männern damals kaum bewusst. Sie wurde von ihnen einfach so gemacht. Und auch eine neue Welt der Texte meldete sich im rissig gewordenen Kalten Krieg, an den zu glauben seit 1964/5 immer schwerer fiel. Diese Texte standen hinter den Diskursen, sandten Botschaften aus, veränderten sich und verschwanden. Die ersten linken Verständigungsbücher („CDU-Staat“, „Politik des Kapitals“, „Macht und Herrschaft in der Bundesrepublik“, „Formen bürgerlicher Herrschaft“) hatten fünfzig- oder sechzigtausend Auflage. Wichtiger noch als die Texte aber war die leidenschaftliche Wiedereinsetzung des ja keineswegs privatisierten, sondern seines demokratischen Sinns entleerten und abgestorbenen Öffentlichen der Straßen, Fabriken, Hochschulen und kargen Drähte des Internationalismus: das war neben der fantastischen Lockung der Utopie die einzige, frühe Versuchung der Macht – es war das Erstaunen über die Gemeinschaftlichkeit, die Attraktion der Communalität. Die Art des Lebens änderte sich und Marx war kein Gespenst mehr. (more)

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